• 09.12.2025, 20:37:32
  • /
  • OTS0143

Erlebter Parlamentarismus: Oral-History-Projekt des Parlaments geht online

Über 200 Stunden an Aufzeichnungen bieten einzigartige Einblicke für Forschung und Interessierte

Wien (PK) - 

Das Parlament ist nicht nur eine abstrakte Institution, sondern vor allem die lebendige Gemeinschaft seiner Mitglieder und die Summe ihrer Erfahrungen. Dieses Verständnis liegt dem laufenden Oral-History-Projekt "Erlebter Parlamentarismus" im österreichischen Parlament zugrunde. Seit 2015 entstanden unter Federführung von Günther Schefbeck, langjähriger Leiter des Parlamentsarchivs, über 123 ausführliche Interviews mit ehemaligen Abgeordneten zum Nationalrat, Mitgliedern des Bundesrats und Abgeordneten zum Europäischen Parlament sowie mit früheren leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Parlamentsdirektion und der parlamentarischen Klubs. Darin zeichnen die Interviewten ein facettenreiches Bild des österreichischen Parlamentarismus von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart und gewähren Einblick in die parlamentarische Arbeit, von staatstragenden Entscheidungen bis hin zu persönlichen Anekdoten. Für die Forschung eröffnet sich dadurch eine einzigartige Quellenbasis politischer Zeitgeschichte und Interessierten bietet sich die Möglichkeit, der Institution Parlament über die Menschen zu begegnen.

Heute wurde dieses umfangreiche Projekt im Rahmen einer Veranstaltung im Parlament erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Nach einleitenden Worten von Parlamentsvizedirektorin und Mitinitiatorin Susanne Janistyn-Novák erklärte der Leiter des Projekts, Günther Schefbeck, dessen Genese und die methodischen Hintergründe. Holger Böck, Leiter der Abteilung Bibliothek & Archiv der Parlamentsdirektion, demonstrierte anschließend die Realisierung auf der Website des Parlaments. Heide Schmidt, unter anderem ehemalige Dritte Nationalratspräsidentin, Sonja Puntscher Riekmann, ehemalige Nationalratsabgeordnete und Professorin für Politische Theorie und Europapolitik an der Universität Salzburg, sowie Ingrid Thurnher, Radiodirektorin des ORF, beleuchteten schließlich den Themenkomplex Politik, Medien und Öffentlichkeit im Rahmen eines Podiumsgesprächs. Durch die Veranstaltung führte Karl-Heinz Grundböck, Sprecher der Parlamentsdirektion.

Im Rahmen des Projekts wurden vorerst 21 ausgewählte Interviews über die Mediathek auf der Website des Parlaments veröffentlicht, schrittweise werden alle weiteren Videos und damit über 200 Stunden an persönlichen Erinnerungen folgen. Sie sind über eine Filterfunktion durchsuchbar und in thematische Kapitel gegliedert. Ausgewählte Interviews können als Publikationen von der Website des Parlaments heruntergeladen oder als Einzelbände im Parlamentsshop erworben werden. Der Podcast "Geschichte(n) aus dem Parlament " liefert auf Basis der Oral-History-Interviews anekdotenreiche und kurzweilige Einblicke in das "Gedächtnis" des Hohen Hauses. Moderator ist der Schauspieler und Kabarettist Clemens Haipl.

Janistyn-Novák und Schefbeck beleuchten die Hintergründe des Oral-History-Projekts

In ihren einleitenden Worten ging Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák, auf die verschiedenen Phasen des österreichischen Parlamentarismus ein und erklärte die Intention des Projekts. Diese habe darin bestanden, sowohl wertvolle Erinnerungen an diese Phasen aufzuzeichnen als auch die "Innensicht" auf die parlamentarische Arbeit zu dokumentieren.

Wie diese Dimension der parlamentarischen Arbeit im Rahmen des Projekts erfassbar gemacht wurde, erklärte Günther Schefbeck. So seien mündliche Informationssammlungen an sich nichts Neues und schon von den antiken Geschichtsschreibern Herodot oder Thukydides betrieben worden. Etwa ab den 1960er-Jahre hätten diese in Form der "Oral-History-Bewegung" in den modernen Geschichtswissenschaften wieder Fuß gefasst. Damit hätten auch die Perspektiven jener erhoben werden können, die üblicherweise keine schriftlichen Quellen hinterlassen, verwies Schefbeck auf den Ansatz der "grassroots history" bzw. "history from below". Dabei spielten die von den Befragten reproduzierten Fakten ein Rolle, das Interesse der Forschung gehe aber viel weiter. Im Zentrum stünden vor allem Sichtweisen, Werte, Motivationen und oftmals auch "Faktenirrtümer", da auch irrtümlich erinnerte Fakten für die Erfassung der Perspektive einer Person aufschlussreich sein könnten. Dafür dürfe der bzw. die jeweilige Interviewte nicht das Gefühl haben, "vor einem Richter zu stehen", so Schefbeck, sondern müsse eine Plattform bekommen, um ihre "selbstreflektierten Erfahrungen" frei wiedergeben zu können.

Podiumsgespräch über Parlamentarismus, Medien und Polarisierung

Ein Beispiel für eine solche Plattform lieferte das Podiumsgespräch mit Heide Schmidt, Sonja Puntscher Riekmann und Ingrid Thurnher. Darin erinnerten sich die Diskutantinnen an die von Schmidt initiierte Gründung des Liberalen Forums 1993, an den einhergehenden medialen Diskurs sowie die Auswirkungen auf die parlamentarische Praxis. Sie reflektierten dabei die Rolle der Medien hinsichtlich der politischen Polarisierung. Für Thurnher führten insbesondere die sozialen Medien zu einer Emotionalisierung der politischen Sphäre, die besonders "an den Rändern des Meinungsspektrums" verfange. Die "ungefilterte Kommunikation unter Umgehung des Journalismus" führe bei den Rezipientinnen und Rezipienten zur Bildung von Filterblasen und erschwere einen sachlichen und abwägenden politischen Diskurs. Dieses polarisierte "Gegeneinander" sowie der von Emotionalisierung lebende "Populismus" könne die Demokratie "aushebeln", zeigte sich auch Heide Schmidt über aktuelle Entwicklungen besorgt.

Als "Wesen der Demokratie" sah hingegen Puntscher Riekmann die Polarisierung, die schon nur mit den Mitteln des klassischen Journalismus stattgefunden habe. Zudem sei der Populismus der inhärente "Schatten der Demokratie". Welchen "qualitativen Sprung" die sozialen Medien in dieser Hinsicht gebracht hätten, sei wissenschaftlich "noch nicht zu Ende analysiert". Doch auch Puntscher Riekmann sah, dass die politischen Ränder in den sozialen Medien "am lautesten" seien, während sich die Mitte sehr wenig einbringe. Problematisch werde diese Entwicklung dann, wenn "Unversöhnlichkeit" in den politischen Diskurs Einzug halte und "keine Brücken mehr gebaut" werden könnten, so Puntscher Riekmann. (Schluss) wit

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung sowie eine Nachschau auf vergangene Veranstaltungen finden Sie im Webportal des Parlaments.


Rückfragen & Kontakt

Pressedienst der Parlamentsdirektion
Parlamentskorrespondenz
Tel. +43 1 40110/2272
pressedienst@parlament.gv.at
www.parlament.gv.at/Parlamentskorrespondenz

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NPA

Bei Facebook teilen
Bei X teilen
Bei LinkedIn teilen
Bei Xing teilen
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel