• 21.08.2025, 14:15:32
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Ergänzende Stellungnahme zur aktuellen Debatte über Scharia-Schiedssprüche in Österreich

Keine Legitimierung und Salonfähigkeit der Scharia im Namen des Rechts – die Türkische Gemeinde in Österreich (TKG) warnt vor der Aushöhlung des Rechtsstaats.

Wien (OTS) - 

Die Türkische Gemeinde in Österreich begrüßt die jüngste Stellungnahme des Justizministeriums, die vor vorschnellen Entscheidungen im Umgang mit Scharia-Schiedssprüchen warnt. Diese vorsichtige Herangehensweise unterstreicht die Notwendigkeit, die Grundwerte der österreichischen Rechtsordnung zu schützen und Paralleljustizsysteme zu verhindern.

Wir fordern jedoch erneut, dass bei der Bewertung solcher Fälle mit höchster rechtlicher Sorgfalt, Verantwortung, Achtung und Sensibilität vorgegangen wird – allerdings nicht auf Kosten der Grundprinzipien der freiheitlich-vielfältigen, säkularen Rechtsordnung der Republik Österreich und ihrer Werte.

Wir sind der Meinung, dass die Entscheidung des Wiener Landesgerichts für Zivilrechtssachen vom 2. Mai 2025 einen auf den Prinzipien der Scharia basierenden Schiedsspruch zu bestätigen, erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aufwirft. .

Die Entscheidung des Landesgerichts Wien, einen auf der Scharia basierenden Schiedsspruch zu bestätigen bzw. legitimieren, verletzt nicht nur das Prinzip der Trennung von Religion und Staat – sie untergräbt das Vertrauen in ein einheitliches, säkulares Rechtssystem.

Wir sind der Meinung, dass mit der Entscheidung des Landesgerichts Wien, ein Scharia-Urteil in Höhe von 320.000 Euro zu bestätigen, de facto eine „vollstreckbare Scharia-Vereinbarung” in Österreich legitimiert wurde – leider im Namen der Republik verstanden wird.

Bitte Vorsicht

Die Diskussion um religiöse Schiedsverfahren betrifft nicht nur eine Glaubensgemeinschaft, sondern den gesamten Rechtsstaat Österreich. Wenn religiös motivierte Schiedssprüche, die auf einem transzendenten Gott basieren und somit außerhalb unserer Welt und unseres Denkens liegen, in das säkulare Rechtssystem Einzug halten, droht langfristig die Erosion des fundamentalen Prinzips der Trennung von Staat und Religion, wie es in der österreichischen Verfassung verankert ist.

EGMR : Was sind „die Grundwerte der österreichischen Rechtsordnung“

Das Justizministerium der Republik Österreich warnt: „Grundsätzlich ist festzuhalten, dass österreichische Gerichte nur Regeln anwenden, die mit unseren Wertvorstellungen übereinstimmen.“ Es greife die sogenannte „ordre public“-Klausel, die besagt, dass Bestimmungen fremden Rechts nicht anzuwenden sind, wenn ihre Anwendung gegen die Grundwerte der österreichischen Rechtsordnung verstoßen würde."

Die TKG stellt die offene Frage: Was sind „die Grundwerte der österreichischen Rechtsordnung“ und wann verstößt man gegen sie? Ist nicht der EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Teil der Grundwerte der österreichischen Rechtsordnung? Ja, er ist es. Sogar im Verfassungsrang.

Wenn Österreich eine Entscheidung des EGMR nicht umsetzt oder ignoriert, kann das einen Verstoß gegen die EMRK darstellen, die Verfassungsrang hat – es wäre also ein Verfassungsverstoß. Ein solcher Verstoß kann auch die Rechtsstaatlichkeit und das Vertrauen in den Menschenrechtsschutz gefährden, was wiederum dem ordre public widersprechen kann.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits 2003 in der Rechtssache Refah Partei u. a. gegen die Türkei unmissverständlich klargestellt, dass die Einführung paralleler religiöser Rechtssysteme, insbesondere der Scharia, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar ist. Eine staatliche Anerkennung solcher Systeme – sei es direkt oder indirekt durch die Billigung religiöser Schiedssprüche – gefährdet das Vertrauen in die allgemeine Gültigkeit des staatlichen Rechts.

Das österreichische Verfassungsrecht schützt die individuelle Glaubensfreiheit, erlaubt jedoch nicht, dass religiöse Normen über dem staatlichen Recht stehen oder dieses verdrängen. Schiedssprüche, die aus einem religiös-dogmatischen Kontext stammen und mit der österreichischen Rechtsordnung nicht kompatibel sind, dürfen nicht anerkannt werden, ohne den ordre public zu verletzen. Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, darf aber nicht als Vorwand genutzt werden, rechtsstaatliche Prinzipien zu unterlaufen.

Wir fordern daher in aller Höflichkeit und Respekt:

  • ⁠Eine verfassungsrechtliche Neubewertung solcher Schiedssprüche unter besonderer Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
  • Eine klare gesetzliche Leitlinie, die die Grenzen religiöser Schiedsverfahren in Österreich eindeutig definiert.
  • ⁠Einen offenen, gesamtgesellschaftlichen Dialog über den Schutz unserer gemeinsamen Grundwerte vor religiösem Missbrauch – unabhängig von der jeweiligen Religion.

Die Türkische Gemeinde in Österreich (TKG) bekennt sich mit ihren „wehrhaften Demokraten” zu einer freiheitlich-demokratischen, pluralistischen und säkularen Grundordnung, zu Rechtsstaatlichkeit und zu einem friedlichen Zusammenleben. Unser Anliegen ist nicht die Ablehnung von Religion, sondern der Schutz gemeinsamer rechtlicher Werte, die auf 1000-jährigem Schmerz, Kummer, Tränen und Glück Stein auf Stein mit der heutigen Verfassung der Republik Österreich aufgebaut wurden, in der unsere Menschenwürde als Erstes verteidigt wird, vor religiös motivierter, „politisierter Religion aller Art” und „hinter allen Deckmänteln”.

Es lebe die Republik!

Rückfragen & Kontakt

Türkische Kulturgemeinde in Österreich (TKG-Think Tank)
Dr Melissa Günes
E-Mail: m.gunes@turkischegemeinde.at
Website: https://www.turkischegemeinde.at

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