TIROLER TAGESZEITUNG AM SONNTAG "Leitartikel" Ausgabe vom 12. November 2023, von Michael Sprenger: "Auf linkem Kurs ins Kanzleramt"

Nach dem chaotischen Parteitag, als sich Andreas Babler erst nach Tagen über den knappen Erfolg in der Kampfabstimmung gegen Hans Peter Doskozil hat freuen können, wird eine Frage diskutiert: Schafft die SPÖ mit Babler an der Spitze die Rückkehr ins Kanzleramt? Und wenn ja, kann Babler überhaupt Kanzler? Denn von bürgerlicher Seite wird der SPÖ unter Babler ein Linkskurs unterstellt. Insgeheim hoffte daher der politische Gegner, dass die SPÖ ihren Parteitag zu einer weiteren Selbstzerstörung nützt. Trotz Gegenwind aus dem Burgenland und dem Wiener Rathaus wollten die Genossinnen und Genossen nicht für Jubelstimmung bei den bürgerlichen Zaungästen sorgen. Die Sozialdemokraten übten die Geschlossenheit, indem sie Babler während seine Rede oft mit lautem Applaus unterbrachen, indem sie ihn mit 88,8 Prozent zum Vorsitzenden wählten. 
   Und was ist jetzt mit dem Linkskurs? Ja, man muss es ganz nüchtern sagen. Die Sozialdemokraten gaben sich bei ihrem Parteitag in Graz kämpferisch, leidenschaftlich und vor allem sozialdemokratisch. Welch eine Überraschung.
   Auch wenn es weiterhin SPÖler geben wird, die die Nasen über das Arbeiterkind an der Parteispitze rümpfen werden. Babler hat überrascht. Er hat nicht nur die SPÖ eingeschworen auf ein aufreibendes Wahljahr, das einen blauen Kanzler Herbert Kickl und Schwarz-Blau verhindern soll, der Parteitag hat gestern auch die Fenster aufgerissen für eine parteiinterne Demokratisierung. Denn es gibt künftig die Möglichkeit der Direktwahl des Parteivorsitzenden. Und wen ärgert dies? Wohl jene Funktionäre in der SPÖ, die für Strukturkonservativismus stehen. So gesehen – ein rotes Lebenszeichen.