- 23.06.2016, 22:00:01
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Tiroler Tageszeitung, Ausgabe vom 24. Juni 2016; Leitartikel von Hubert Winklbauer: "Von der Wahrheit entfesselt"
Innsbruck (OTS) - Der Versuch, ganz Österreich über eine verordnete
Fußball-Euphorie gleichzuschalten, ist den großen
österreichischen Medien nicht gelungen – vielleicht sollten wir den
Isländern dafür sogar dankbar sein.
Publizistisches Ethos hin, journalistisches Ethos her – anders als
die Krone, die „offizielles Organ“ nicht nur des ÖSV, sondern jetzt
auch des ÖFB ist, ist der Staatsfunk ORF kein „offizielles Organ“ des
ÖFB. Besser gesagt: zumindest nicht als solches deklariert. Aber die
Reporter und anhängigen „Experten“ wissen, den Begriff
„vorauseilender Gehorsam“ mit Leben zu erfüllen. Und das ist noch
schlimmer. Denn der ORF hat eine Aufklärungsfunktion zu erfüllen. Und
keine verklärende. Was der ORF seit Monaten rund ums ÖFB-Team auf
seine gebührenzahlenden Seher loslässt, ist entfesselter
Journalismus. Und zwar ein von der Wahrheit entfesselter. Die
EM-Qualifikationsgegner Liechtenstein, Moldawien und Montenegro als
Teams zu verkaufen, die nur besiegen kann, wer zu den Großen des
Fußballs zählt, ist Ausdruck fachlicher Inkompetenz. Dass wir in der
Qualifikation Schweden und Russland hinter uns gelassen haben, war
schön. Aber nicht grandios. Beide haben bei der EM weniger Punkte
gemacht als der Fußball-Gnom Island mit seinen 320.000 Einwohnern.
Armer Schneckerl Prohaska, selbst Teil der diffamierten
78er-Generation und dazu noch Ex-Teamchef, musste sich als
ORF-Chefanalytiker nahezu selbst geißeln. Motto: So gut wie unter
Koller war der Fußball noch nie. Prohaska hatte sogar den grandiosen
14:0-Sieg über den Schweizer Sechsligisten Schluein kommentieren
müssen. Die Meinung, dass uns zur Fußball-Weltmacht nur mehr wenig
fehlt, wurde so oft veröffentlicht, dass die Öffentlichkeit daran
geglaubt hat. Die Medienmacht und der damit entfachte Chauvinismus
war zumindest so groß, dass sich 30.000 Fans auf die (gar nicht so
billige) Reise nach Paris gemacht haben.
Diese waren dann Zeuge von einer der großen Blamagen des
heimischen Fußballs geworden. Sich gegenseitig das Etikett Weltklasse
anzuheften, macht noch niemanden zur Weltklasse. Das ÖFB-Team hat
seit dem Ende der EM-Qualifikation kein starkes Spiel mehr geboten.
Wer immer das zu bedenken gegeben hat, hatte sich fast schon des
Defätismus verdächtig gemacht. Kritiklose Gleichschaltung war
gefordert. Die erfolgt bei den Stadionbesuchern schon rein optisch:
Trikots, Perücken, Kopfschmuck. Dazu Bierbrauerei-Fahnen. Vielleicht
ist das Aus bei der EURO für dieses Land ja ein Segen. Weil es dazu
animiert, nicht alles kritiklos hinzunehmen, was vermeintlich seriöse
Medien im Sinne ihrer Quoten so von sich geben. Wahr ist, was
möglicherweise für einige traurig ist: Auch unter Koller waren wir
nie Weltklasse. Kein bisschen.
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