- 30.12.2012, 18:34:35
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"Die Presse" - Leitartikel: Wien ist nicht Neu-Delhi - aber wie weit weg ist es?, von Doris Kraus
Ausgabe vom 31.12.2012
Utl.: Ausgabe vom 31.12.2012 =
Wien (OTS) - Wien ist nicht Neu-Delhi - aber wie weit weg ist es?
Leitartikel von Doris KRAUS
Gewalt gegen Frauen regt punktuell auf, wenn sie besonders grausam
ist, wie in Indien, oder besonders unglaublich, wie in der U6. Zu oft
aber lässt sie uns kalt.
Wer auf die Idee kommt, Wien mit Neu-Delhi zu vergleichen, darf sich
normalerweise gleich an den Ohren ziehen lassen. So eine Frechheit,
wem fällt das denn ein? Was soll denn bitte der Nabel der sicheren,
wohlhabenden österreichischen Welt mit der Hochburg indischer Slums,
Armut und Brutalität gemeinsam haben?
Na ja, fragen wir doch einmal die junge Frau (23), die am 17.
Dezember in Alterlaa in die U6 gestiegen ist. Drei Stationen weiter
war sie ohnmächtig, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, und
vergewaltigt. Ihre Leidensgenossin aus Neu-Delhi kann niemand mehr
fragen. Die 23-jährige Studentin, die am 16. Dezember in einem Bus
von sechs betrunkenen Männern vergewaltigt, mit einer Eisenstange
geschlagen und auf die Straße geworfen wurde, ist am Samstag ihren
schweren Verletzungen erlegen.
Derartige Gewalt gegen Frauen empört alle Welt. Im Falle Indiens regt
die schiere Brutalität des Falles auf, die dem Land den Vorhang
heruntergerissen und es vor der Welt bloßgestellt hat. Indien
behandelt seine Frauen wie den letzten Dreck - das kann jetzt jeder
sehen. Die Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin könnte einer
jener Vorfälle sein, der Dinge grundlegend verändert. Hoffentlich.
Die Öffentlichkeit hat dem offiziell noch immer namenlosen Opfer
schmückende Beiwörter umgehängt wie "Blume Indiens" oder "Löwenherz"
- und diesen wird sie posthum möglicherweise gerecht werden.
Im Falle der Vergewaltigung in der Wiener U6 regt etwas anderes auf:
die schiere Kaltblütigkeit der Tat sowie der unglaubliche Umstand,
dass sie in der vorweihnachtlichen Rushhour (18.15 Uhr an einem
Montag) drei Stationen lang einfach nicht bemerkt wurde.
Was an der ganzen Sache aber besonders aufregt, ist, dass es solcher
horrender Vorfälle bedarf, um Gewalt gegen Frauen wieder dorthin zu
rücken, wo sie eigentlich ständig hingehörte: in den Blickpunkt der
Öffentlichkeit - und zwar in den Blickpunkt einer ewig wachsamen und
gegenüber den Tätern kompromisslosen Öffentlichkeit. Nicht einer
achselzuckenden, gelangweilten, abgestumpften Öffentlichkeit, die
sich ganz gern auch noch zu geschmacklosen Bemerkungen hinreißen
lässt.
Doch zu einer solchen Öffentlichkeit sind wir mittlerweile geworden,
wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. Der Umstand einer Vergewaltigung
reicht heute oft nicht mehr aus, um es in die Medien zu schaffen, es
sei denn, die Umstände sind besonders horrend oder die Beteiligten
besonders prominent. Sonst lautet der Tenor: Tja, echt schlimm für
das Opfer, aber weder das erste noch das letzte Mal, dass so etwas
vorkommt. Auch dass Frauen in Indien schlecht behandelt werden,
wissen wir schon lange. Und die hunderttausenden Frauen, die jedes
Jahr - auch nach Europa - als Sexarbeiterinnen verkauft werden,
fallen in der öffentlichen Wahrnehmung unter so etwas wie
Wirtschaftskriminalität. In Pakistan wird Mädchen ins Gesicht
geschossen, wenn sie in die Schule gehen wollen, in Asien landen sie
in jungen Jahren im Bordell, in Afrika werden sie gegen ihren Willen
beschnitten. Aber Gott sei Dank ist das alles ja echt weit weg.
Oder auch nicht. Gewalt gegen Frauen ist nicht nur ein globales,
sondern auch ein globalisiertes Problem. Als Teil der weltweiten
Migrationswellen wandert es von Land zu Land, breitet sich aus und
setzt sich fest. Die Strukturen der vernetzten Welt haben nicht nur
jenen geholfen, die sich gegen die Gewalt gegen Frauen zur Wehr
setzen, sondern wahrscheinlich mehr noch jenen, die sie begehen.
Und auch wenn es politisch heikel ist, ein Argument hat in dieser
Diskussion überhaupt keinen Platz - das der kulturellen Unterschiede,
wie Frauen von ihren Männern behandelt werden (dürfen). Der
gesellschaftspolitische Konsens muss sein, dass Gewalt gegen Frauen
bekämpft werden muss, dass man in diesem Kampf nicht nachlassen darf
und dass man dafür auch Auseinandersetzungen austragen muss, die man
als politisch inkorrekt ansieht.
2013 ist ein gutes Jahr, um sich diesen Kampf auf die Fahnen zu
schreiben. "Löwenherz", die 23-jährige U6-Fahrerin und Millionen
andere Frauen werden es zu danken wissen.
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