• 02.06.2012, 17:33:39
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Die Presse am Sonntag - Leitartikel: "Das Empörungsdilemma", von Ulrike Weiser

Ausgabe vom 03.06.2012

Wien (OTS) - Wenn die Innenministerin eine "Task Force" für
Kinderschutz gründet, beschleicht einen milder Zynismus. Denn abseits
tragischer Vorfälle ist von politischer Betriebsamkeit nicht viel zu
merken.

Wie funktioniert Empörung? Der Kurznachrichtendienst "Twitter"
lieferte vergangene Woche Anschauungsmaterial. Auslöser war die
Online-Ausgabe der Zeitung "Österreich", die via "Live-Ticker" vom
Begräbnis jenes Jungen berichtete, der in einer St. Pöltener Schule
von seinem Vater erschossen worden war. Die Twitter-Gemeinde
reagierte mit einem "Shitstorm" der Entrüstung. Der Effekt des
digitalen Plebiszits war beachtlich: Werbekunden zogen sich
öffentlichkeitswirksam zurück, es folgte sogar eine offizielle
Entschuldigung. Dass in dem Ticker - so geschmacklos er war -
faktisch nicht viel anderes als in anderen Medien stand, war den
Protestierenden dabei ebenso egal wie die Tatsache, dass auch der ORF
Bilder vom Begräbnis zeigte und der Boulevard tagelang unverpixelte
Fotos des Jungen abgedruckt hatte. Für einen Aufschrei braucht es
eben erst einen richtig "krassen" Anlass.
Darin gleicht die "Twitteria", zugegeben, den Journalisten (die
handelnden Personen sind oft dieselben) - und der Politik. Letztere
verhält sich gerade beim Thema Kinderschutz janusköpfig. Gibt es
einen tragischen Anlass, zeigt sie ihr energisches Gesicht: Unter dem
schneidigen Titel "Task Force Kinderschutz" lässt die Innenministerin
nach dem St. Pöltener Mord etwa über eine Ausweitung des
polizeilichen Kontaktverbots für Gewalttäter diskutieren. Ob eine
solche den Fall verhindert hätte, ist fraglich, der milde Zynismus,
den man angesichts der Debatte verspürt, hat aber einen anderen
Grund: Die Geschäftigkeit steht im Gegensatz zur Bedeutung von
Kinderschutz im politischen Alltag. Die ist nämlich eher enden
wollend.
Ein Grund dafür ist, dass Kinderschutz eine "Querschnittsmaterie"
ist. Die Verantwortung verteilt sich auf viele Ressorts, mit dem
Effekt - man kennt das von Gruppenarbeiten -, dass sich keiner
wirklich zuständig fühlt. Dass wir offiziell einen Familienminister
haben, ändert insofern wenig, als der mit seinem Hauptjob, der
Wirtschaft, ausgelastet ist. Ihre Fortsetzung findet die
Kompetenzzersplitterung dann im Verhältnis Bund/Länder. Letztere sind
Träger der Jugendwohlfahrt. Seit fast vier Jahren liegt nun der
Entwurf für ein Kinder- und Jugendhilfegesetz in der Schublade.
Warum? Weil sich der Bund und drei Länder (Burgenland,
Oberösterreich, Steiermark) nicht einigen. Gestritten wird nicht über
den Inhalt (so etwa soll das Vieraugenprinzip bei der Abklärung der
Gefährdung zumindest "erforderlichenfalls" verankert werden), sondern
schlicht um die Mehrkosten. Und das, obwohl der Entwurf über die
Jahre immer bescheidener wurde, und es nicht um riesige Summen geht.

Ein Fall, (k)eine Lektion. Unterm Strich führt dieses Setting dazu,
dass nur etwas weitergeht, wenn es einen neuen "Fall" gibt. Immer
muss etwas passieren, das ist das Dilemma bei der Empörung. Aber
selbst wenn etwas geschieht, bleiben die Effekte lokal begrenzt. Nach
dem Tod des dreijährigen Cain etwa - er starb 2011 in Vorarlberg nach
schwerer Misshandlung - wurde zwar bundesweit die Einsicht ins
Strafregister des Jugendamts erweitert, um bei begründetem
Gewaltverdacht Betreuungspersonen zu überprüfen. Maßnahmen, wie die
Aufstockung des Personals in Jugendämtern oder Hilfe für stark
überforderte Eltern auf Säuglingsstationen, wurden nur in Vorarlberg
eingeführt.
Wobei: Es geht nicht immer nur um Ressourcen. Fragt man Praktiker,
woran es krankt, hört man auch: an der Kommunikation. Oft wissen
mehrere Einrichtungen über Gewalt in einer Familie Bescheid, tauschen
sich aber nicht aus. Die Folge: Es fehlt eine gute Basis für eine
Risikoabschätzung. 2011 belegte eine Studie, dass Österreich im
Vergleich zur Schweiz und zu Deutschland bei institutionalisierter
Behördenzusammenarbeit hinterherhinkt. Die Gründe für das fehlende
Netzwerk reichen dabei von banal (unübersichtliche Computerdateien)
bis komplex (Datenschutz). Einer Lösung kann man sich wohl nur in
kleinen Schritten nähern. Umso wichtiger wäre es, konzertiert
loszugehen. Und zwar ganz ohne Anlass.

Rückfragehinweis:
Die Presse
Chef v. Dienst
Tel.: (01) 514 14-445
mailto:chefvomdienst@diepresse.com
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