"Die Presse" Leitartikel: "Ein wenig Gelassenheit könnte nicht schaden" (von Michael Fleischhacker)
Ausgabe vom 31.12.2005
Wien (OTS) - Auf Österreich kommt 2006 einiges zu. Ein Grund, zur alten Tradition der guten Vorsätze zurückzukehren.
Die Zeiten, in denen der Jahreswechsel zum Anlass genommen wurde, sich gute Vorsätze zu machen, scheinen endgültig vorbei zu sein. Heute trifft man kaum noch jemanden, der dieser alten Tradition folgt. Man nennt das Enttäuschungsprophylaxe: Warum soll man sich in guten Vorsätzen verkrampfen, wenn man ohnehin schon ahnt, dass man in der Regel nicht in der Lage sein wird, sie auch zur Gänze umzusetzen? Die Erfahrung, es nicht geschafft zu haben, ruft Selbstzweifel hervor, die sich bei entsprechender Veranlagung und Witterung schnell einmal zur Depression auswachsen können. Zumindest muss man damit rechnen, dass eine schlechte Angewohnheit, von der man um jeden Preis lassen will, sich mit der Erfahrung des Scheiterns eher noch verschlimmert.
Jeder, der mehrmals versucht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, kann das bestätigen: Kaum jemand, der nicht nach einem gescheiterten Versuch, es jetzt aber wirklich endgültig zu lassen, hinterher mehr geraucht hätte als zuvor. Wie man hört, funktionieren Entzugsversuche auch bei härteren Drogen nach einem ähnlichen, dann gelegentlich sogar tödlichen Muster. Und sogar im Bereich der politischen Suchtmittel verhält es sich nicht anders, wie etwa der Fall des Populismus-Junkies Jörg Haider zeigt: Oft genug hat er sich öffentlich vorgenommen, von der Droge zu lassen, und nach jedem Rückfall ist es schlimmer geworden, mit dem Ergebnis, dass das politische Lebenslicht des ehemaligen Politwunders immer schwächer wird.
Weil es also nicht leicht ist, mit der Erfahrung des eigenen Scheiterns umzugehen, hat man sich darauf verlegt, die offensichtlich unvermeidlichen Besserungserwartungen, die mit einem neuen Jahr verbunden sind, nicht an sich selbst zu richten, sondern an die anderen. Es ist eben doch um Einiges leichter, das Versagen der anderen zu ertragen als das eigene.
Der Trend, sich Verbesserungen der Lage nicht von sich selbst, sondern von den anderen zu erwarten, ist naturgemäß unter Politikern, die ohnehin nicht zu Exzessen der Selbstkritik neigen, besonders ausgeprägt. Dass Politiker oder gar politische Gruppierungen sich zum Jahreswechsel gute Vorsätze machen, scheint undenkbar geworden zu sein, weil es das Eingeständnis einschlösse, dass man derzeit unter seinen Möglichkeiten bleibt, und ein solches Eingeständnis hat in der politischen Kultur unserer Tage keinen Platz. Das hat zur Folge, dass es auch in Österreich zwischen der Jubelprosa der Regierenden und der Weltuntergangslyrik der Opposition nichts zu geben scheint als das Buchstabenvalium, das der gütige Herr Bundespräsident gelegentlich austeilt.
Wenn die politische Groteske um die umstrittenen EU-Plakate, die zum Jahreswechsel die österreichischen Gemüter erhitzt, der Gradmesser für die Gelassenheit und Selbstdistanz der politischen Akteure in den kommenden Monaten sein sollte, steht uns ein wirkliches Katastrophenjahr ins Haus. Wie sollen Politiker, die nicht in der Lage sind, ihre Meinung zu einem Kunstwerk im öffentlichen Raum zu äußern, ohne seine Existenz zu einem Skandal galaktischen Ausmaßes hochzustilisieren, eine EU-Präsidentschaft und einen Nationalratswahlkampf über die Bühne zu bringen, ohne das Land jede Woche der internationalen Lächerlichkeit preiszugeben?
Gerade an der Wende zum besonders herausfordernden Jahr 2006 sollten alle Spieler auf dem Feld der politischen Öffentlichkeit in Österreich zur Tradition der Neujahrsvorsätze zurückkehren. Am besten, es fassen alle den selben: nämlich, auf die leichtfertige Aktivierung der in diesem Land besonders hohen Hysterisierungsbereitschaft zu verzichten. An konkreten Anlässen, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, wird es nicht mangeln, weder während der EU-Präsidentschaft noch während des Nationalratswahlkampfes. Würden sich alle daran halten, könnte das beispielsweise für die Zeit der EU-Präsidentschaft bedeuten, dass die Regierung der Versuchung widersteht, jede Kritik der Opposition an der konkreten Vorsitzführung zum Vaterlandsverrat hochzustilisieren. Oder dass im Nationalratswahlkampf darauf verzichtet wird, angesichts der zu erwartenden Anti-Ausländer-Kampagne der Freiheitlichen die Nazi-Keule aus der Mottenkiste zu holen.
Ja, und natürlich sind auch wir Medienleute gefragt, wenn es darum geht, nicht aus jedem österreichischen Küchenbrand einen europäischen Weltuntergang zu machen. Wir wollen unser Bestes versuchen. Und so dazu beitragen, dass es für uns alle ein gutes Jahr wird.
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