- 17.11.2025, 10:00:06
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„Massives Potenzial“: Tirol diskutiert Wege aus der Lebensmittelverschwendung
Vertreter:innen aus Handel, Landwirtschaft, Gastronomie, Forschung, Politik und Zivilbevölkerung suchten bei „Isst das jemand?“ in Innsbruck den Dialog – und konkrete Lösungen.

Über eine Million Tonnen genießbare Lebensmittel landen in Österreich jedes Jahr im Müll. Mit massiven ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen. Um gegen die Vergeudung anzugehen, braucht es Wissen und konkrete Maßnahmen, aber vor allem eines: Zusammenarbeit. Aus diesem Grund haben Die Tafel Österreich und das Ökosoziale Forum Österreich & Europa das Projekt „Isst das jemand?“ ins Leben gerufen: Eine Dialogreihe, die Expert:innen und Zivilbevölkerung gleichermaßen ins Boot holt, um gemeinsam Lösungen gegen Lebensmittelverschwendung zu finden.
In Tirol konnte ein hochkarätiges Podium – moderiert von Alexandra Gruber (Geschäftsführerin Die Tafel Österreich) und Michaela Hickersberger (Generalsekretär-Stv. Ökosoziales Forum Österreich & Europa) – aus unterschiedlichen Bereichen der Wertschöpfungskette gewonnen werden: Romed Giner (Obmannstellvertreter der Tiroler Gemüsebauern), David Mölk (Mitglied der Geschäftsführung und Miteigentümer der Firma MPREIS), Alois Rainer (Obmann Fachverband Gastronomie, Wirtschaftskammer Österreich) und Matthias Stefan (Universität Innsbruck, Institut für Banken und Finanzen) stellten sich der Diskussion miteinander und mit dem Publikum, das via digitaler Abstimmung sowie persönlich einbezogen wurde.
Investitionen in Bildung, Forschung und Technologie
Einig, wenn auch aus verschiedenen Perspektiven, waren sich die Experten in einem: Wenn Lebensmittelverschwendung deutlich reduziert werden soll, muss auch investiert werden.
David Mölk, Mitglied der MPREIS-Geschäftsführung, betont, dass Lebensmittelverluste im Handel einen relevanten Anteil am Umsatz ausmachen – und es daher im ureigensten Interesse des Lebensmittelhandels liegt, Abfälle gar nicht erst entstehen zu lassen. „Die Balance zwischen einer hohen Kundenzufriedenheit und einer optimalen Warenmenge im Geschäft fordert uns täglich heraus. Dabei setzen wir bereits auf KI-gestützte Systeme. Der Einsatz moderner Technologien, etwa zur Analyse von Mindesthaltbarkeitsdaten und zur automatischen Warendisposition, ist zukunftsweisend und gewinnt weiter an Bedeutung. Denn die besten Lebensmittelbfälle sind jene, die gar nicht erst entstehen.“
Die Agrarwirtschaft bildet laut EU-Statistik das Schlusslicht in Sachen Lebensmittelverschwendung. Romed Giner, selbst Landwirt, hielt dennoch fest, dass die Mengen mehr werden. Das liege u. a. am sich ändernden Klima und an einem unsachlichen Diskurs über modernen Pflanzenschutz. Investitionsbedarf sieht er vor allem im Bereich Wissenschaft und Forschung: „Früher wurde mit dem Klima ,mitgeforscht‘ und Landwirt:innen entsprechendes Handwerkszeug mitgegeben, etwa im Bereich Dünger oder Schädlingsbekämpfung.“ Das habe sich geändert – allein durch das Verbot vieler Pflanzenschutzmittel seien die Ausfälle teils verheerend bis hin zum kompletten Wegfall; bei Radieschen etwa haben sich die Verluste verdreifacht, für Kohlsprossen gibt es mittlerweile keinen einzigen Tiroler Produzenten mehr. Giner: „Es gäbe massives Potenzial im Bereich der Forschung im Pflanzenschutz – hier müsste dringend mehr investiert werden.“
Ein weiteres Investmentthema ist die Bildung, wie Gastronomie-Funktionär Alois Rainer (WKO) festhielt: „Die große Kunst ist es, nicht nur richtig zu planen, sondern übriggebliebene Speisen von Buffets & Co auch gezielt weiterzuverarbeiten oder weiterzugeben. Die Wirtschaftskammer bietet bereits geförderte Programme für Gastronom:innen an, in denen sie lernen, wie man Lebensmittelabfall vermeidet. Wir alle leben im Überfluss – wir müssen gezielt schulen und Bewusstsein schaffen, um gegen Lebensmittelverschwendung anzugehen.“
Wertschätzung und Bewusstsein sind Trumpf
Wie vom Publikum großteils richtig getippt, sind private Haushalte die anteilsmäßig größten Verschwender in Österreich: mehr als die Hälfte des Lebensmittelmülls fällt hier an.
Für Ökonom und Verhaltensforscher Matthias Stefan ist dieses Ergebnis keineswegs überraschend. „Wir respektive unser Konsumverhalten entsprechen oft nicht dem Bild, das wir selbst gerne von uns hätten. Wir wünschen uns, jemand anders wäre ,der Schuldige‘, zum Beispiel der Handel. Aber wir selbst kaufen oft zu viel und werfen dann weg – das ist ein typisches Verhaltensmuster, das auch vom sozialen Umfeld geprägt ist. Uns fehlt oft schlichtweg das Bewusstsein, unser eigenes Konsumverhalten zu beleuchten.“ Oft funktionieren schon banale Lösungsansätze wie kleinere Teller beim Buffet überraschend gut, so der Wissenschaftler. „Aber es gibt nicht die eine Lösung. Wir müssen zusammenarbeiten und mehr Bewusstsein schaffen, schon in Schulen ansetzen.“
Für mehr Bewusstsein plädieren auch die anderen Diskutanten. Alois Rainer: „Wissen und Bewusstsein braucht es bei allen: bei den Mitarbeiter:innen in der Gastronomie, bei den lokalen Produzent:innen, bei den Konsument:innen. Wenn jede und jeder darüber nachdenkt, was und wie viel man kauft, wird auch weniger weggeworfen.“ Auch David Mölk betont die Bedeutung eines achtsamen Umgangs mit Nahrungsmitteln: „Wir brauchen mehr Wertschätzung für Lebensmittel. Sie sind kostbar und verdienen unsere volle Aufmerksamkeit – vom Einkauf bis zum Verbrauch. Jede und jeder von uns muss einen Beitrag leisten.“
Romed Giner hielt der Gesellschaft einen Spiegel vor: „Wir haben viele rechtschaffen empörte Bürger:innen, die mehr Natur- und Umweltschutz einfordern. Aber wenn sie vor dem Regal stehen, werden viele zu Konsument:innen, die Preis und Rabattierung hörig sind. Ich wünsche mir, dass Konsument:innen vorm Regal zu Bürger:innen werden und sich bewusst sind, dass jeder Griff zum Produkt einen Kreislauf in Gang setzt, der Wertschöpfung und Nachhaltigkeit im eigenen Land schafft.“
Gemeinsam gegen Lebensmittelverschwendung
Auch aus dem Publikum kamen zahlreiche konkrete Ideen und Aspekte. Teuerungsdebatte und „Rabattitis“, Systemversagen gegenüber armutsbetroffenen Menschen (die unter den Teuerungen am meisten leiden), Lieferketten-Problematik und Abfallraten insbesondere bei Frischeprodukten wie Sandwiches oder abgepackten Salaten sowie Haftungsfragen und Bildung: Der – von Alexandra Gruber (Die Tafel Österreich) und Michaela Hickersberger (Ökosoziales Forum Österreich & Europa) angeleitete und von Bund, Ländern und Europäischer Union unterstützte – Dialog mit Experten und Zivilbevölkerung zeigte deutlich, wie umfassend das Thema Lebensmittelverschwendung zu begreifen ist. Und dass es nur gemeinsam gelingen kann, gegen diesen Missstand anzukämpfen.
Über Die Tafel Österreich
Die Tafel Österreich versorgt seit 1999 armutsbetroffene Menschen durch soziale Einrichtungen kostenfrei mit geretteten Lebensmitteln. So haben sie eine essenzielle Sorge weniger und können mit professioneller Hilfe Wege aus der Not finden. Allein im Jahr 2024 konnten über 1.578 Tonnen Lebensmittel an mehr als 75.000 armutsbetroffene Menschen in ganz Österreich weitergegeben werden. Die Non-Profit-Organisation ist überwiegend spendenfinanziert und auf Geld-, Zeit- und Warenspenden angewiesen. Mehr Infos unter tafel-oesterreich.at
Über das Ökosoziale Forum Österreich & Europa
Das Ökosoziale Forum ist ein Think-Tank, der sich für die Umsetzung der Ökosozialen Marktwirtschaft auf österreichischer und europäischer Ebene einsetzt. Dieses nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell wird durch die Vernetzung von Personen und Organisationen sowie eine Bündelung der Kräfte verwirklicht.
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Die Tafel Österreich
Verena Scheidl
Telefon: +43 664 882 798 22
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