- 24.10.2025, 10:23:32
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80 70 30: Die Selbst(er)findung Österreichs
Zur Konstruktion nationaler Identität in der Zweiten Republik
Drei Jahrestage bündeln 2025 den Blick auf Österreichs Selbstverständnis: 80 Jahre Kriegsende, 70 Jahre Staatsvertrag und Neutralität sowie 30 Jahre Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Diese Eckdaten markieren nicht nur politische Zäsuren, sie erzählen auch die Geschichte einer allmählichen Selbstvergewisserung. Nach den politischen, gesellschaftlichen und moralischen Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs musste sich die Republik neu definieren - rechtlich, politisch und kulturell. Vor allem musste sie auch daran gehen, "jenen sozusagen vorpolitischen gemeinsamen 'Glauben', jenen Mythos zu schaffen, der staatlicher Existenz vorausgeht und diese erst als selbstverständlich begründet", wie Historiker Ernst Bruckmüller schreibt.
Denn Österreichs Identität als Kleinstaat erschien 1945 alles andere als selbstverständlich. Die junge Republik stand vor der Aufgabe, aus den Trümmern einer untergegangenen Ordnung nicht nur Institutionen, sondern auch ein neues Selbstbild zu formen. Diese "Selbst(er)findung" vollzog sich nicht geradlinig, sondern in Etappen und mit Brüchen. Sie führte von der komplexen Abgrenzung zu Deutschland über die Erhebung der Neutralität zum nationalen und internationalen Markenzeichen bis hin zur kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Die Parlamentskorrespondenz versucht, diesen ständigen Aushandlungsprozess nachzuzeichnen, der zeigt, dass nationale Identität weniger ein Zustand als eine Bewegung ist - ein fortgesetztes Ringen um Bedeutung und Zugehörigkeit.
Identität als Praxis
"Das gute Österreich [...] ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit." So schrieb Ludwig Wittgenstein in seinem letzten Werk "über Gewißheit" in den Jahren 1950/51 und illustrierte damit die Problematik, eine nationale Identität - insbesondere die österreichische - zu erfassen.
Er schien damit den Befund des Historikers Oliver Rathkolb aus seinem Buch "Die paradoxe Republik" zu bestätigen, wonach es "nichts Schwammigeres [gibt] als Identitätsdiskurse". Ähnlich sieht dies die Sprachsoziologin Ruth Wodak in "1000 Jahre Österreich - Wege zu einer österreichischen Identität" und warnt davor, den Begriff Identität unhinterfragt zu verwenden, da er "einerseits schwammig, andererseits [...] hochkomplex und vielschichtig" sei. Philosoph Konrad Paul Liessmann findet den Identitätsdiskurs - "egal ob er von Linken oder Rechten betrieben wird" - gar "intellektuell defizitär und beschämend", wie er in einem Interview mit der Tageszeitung Presse eröffnet. Der Begriff Identität suggeriere die vollständige Übereinstimmung mit etwas anderem. Wer stolz von seiner Identität spreche, sei bereits in eine "Falle getappt. Er glaubt nämlich, er könne mit einer Sache so eins sein, dass sie ihn in seinem Denken, Handeln und Fühlen zur Gänze bestimmt", so Liessmann.
Nationen sind ein Produkt der Moderne und Identitäten - insbesondere kollektive - als Resultat von Aushandlungsprozessen ständig im Fluss. So berechtigt daher die Einwände gegen eine allzu statische Vorstellung von kollektiver Identität sind, würde man ihrer sozialen Realität unrecht tun, sie mit Hinweis auf ihren Charakter als Konstruktion ebenso leichtfertig zu verwerfen. Identität bleibt eine zentrale Kategorie, wenn es darum geht, politische Zugehörigkeit, historische Kontinuität und kulturelle Selbstbeschreibung zu begreifen. Wie Rathkolb betont, ist es trotz aller Ambivalenzen "möglich, eine Bestandsaufnahme für Österreich zu wagen, wobei die Identitätsstränge mit unterschiedlicher Intensität wirksam sind" Diese Stränge - ob Neutralität, Sozialpartnerschaft, Opferthese, Kultur oder Sprache - bilden kein geschlossenes System, sondern ein Netzwerk historischer Bedeutungen. Österreichische Identität ist demnach, in Wittgensteins Sinn, keine feststehende Substanz, sondern eine Angelegenheit der Praxis.
Österreich als Antithese zu Deutschland
Laut der Politikwissenschaftlerin Susanne Frölich-Steffen ist die Mehrzahl der Historiker der Auffassung, dass von einer dezidiert österreichischen Identität erst im Zusammenhang mit der Zweiten Republik zu sprechen ist, wie sie in ihrem Buch "Die österreichische Identität im Wandel" feststellt. Historiker Karl Vocelka bestätigt in "Geschichte Österreichs, Kultur - Gesellschaft - Politik", dass es vor dem Zweiten Weltkrieg lediglich Ansätze einer Identitätsfindung durch die österreichische Bevölkerung gab: "Die Bewohner der Alpenrepublik fühlten sich als Deutsche - wenn auch manchmal als die 'besseren Deutschen'". Einzelne Historiker wie Felix Kreissler vertreten die Ansicht, dass eine kollektive Identität der Österreicherinnen und Österreicher bereits im 19. Jahrhundert bestanden habe, "doch wussten sie es noch nicht".
Die "Auslöschung Österreichs" im Dritten Reich ist dann der "Ausgangspunkt einer beschleunigten Bewusstwerdung der Österreicher" gewesen, wie Felix Kreissler in "Der Österreicher und seine Nation" ausführt. War in der Ersten Republik von Österreich noch als dem "Staat, den keiner wollte" die Rede, so hat die Erfahrung des "Anschlusses" und all seiner Folgen in der Zweiten Republik zu einer weit höheren Akzeptanz der Kleinstaatlichkeit geführt. Historiker Oliver Rathkolb spricht in seiner "Paradoxen Republik" von einem "Schockerlebnis, dass die 'Ostmärker' nach 1938 keineswegs als Elite, sondern als bloße Provinzgesellschaft in das nationalsozialistische Deutsche Reich integriert worden waren." Vor allem mit den zunehmenden militärischen Niederlagen nach Stalingrad sei es rasch zu einer "emotionalen Ablösung" gekommen. Die Österreicher, selbst die meisten Nationalsozialisten, seien eben auch zwischen 1938 und 1945 nicht "nur Deutsche" gewesen, wie Ernst Bruckmüller in seinem Kapitel "Die Entwicklung des Österreichbewusstseins" im Sammelband "Österreichische Nationalgeschichte nach 1945" erläutert. Dieses Distanzgefühl sei auch vice versa empfunden worden, da für viele "Reichsdeutsche" die Österreicher lediglich als "Beutedeutsche" galten. "Die Österreicher wollten Deutsche werden - bis sie es dann wurden", lautet eine dem Politikwissenschaftler Richard Löwenthal zugeschriebene Sentenz.
Ab 1945 stellte schließlich kaum jemand mehr öffentlich die staatliche Trennung von Deutschland in Frage, so Rathkolb. Eine starke eigenständige kleinstaatliche Identität war damit allerdings noch nicht herausgebildet. Rathkolb illustriert dieses ambivalente Haltung anhand der ersten Erklärung des "klassischen deutschnationalen k. u. k. Sozialdemokraten" und Staatskanzlers Karl Renner am 30. April 1945 vor Beamten im Kanzleramt. Darin erklärt er, dass Adolf Hitler den Anschlussgedanken "zuerst verfälscht und verfehlt, und zum Schluss für alle Zeit verspielt" habe. Daher bleibe Österreich "nichts übrig, als selbst auf den Gedanken eines Anschlusses zu verzichten", was aber "zugleich eine erlösende und befreiende Tatsache" darstelle.
Die SPÖ blieb laut Bruckmüller auch aufgrund ihrer Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit und mit dem "Ständestaat" misstrauisch, hinter "Österreich" könne sich nach wie vor die Reaktion verstecken. Zudem war die Utopie einer gesamtdeutschen Revolution auf der Basis von 1848 bei manchen Sozialisten noch nicht ad acta gelegt worden, wie Rathkolb ausführt. Realpolitisch spielte diese jedoch keine Rolle mehr und die SPÖ kämpfte nicht mehr offen gegen ein österreichisches Nationalbewusstsein.
Die beiden anderen Staatsgründungsparteien ÖVP und KPÖ verfolgten laut Bruckmüller hingegen eine klar österreichisch-nationale Ausrichtung. Leopold Figl unterstrich diese eindeutige Haltung in seiner Regierungserklärung am 21. Dezember 1945 im Nationalrat: "Wenn wir immer wieder mit allem Fanatismus heimatverwurzelter Treue betonen, daß wir kein zweiter deutscher Staat sind, daß wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren noch werden wollen, sondern daß wir nichts sind als Österreicher, dies aber aus ganzem Herzen und mit jener Leidenschaft, die jedem Bekenntnis zur Nation innewohnen muß, dann ist dies keine Erfindung von uns, die wir heute die Verantwortung für diesen Staat tragen, sondern tiefste Erkenntnis aller Menschen, wo immer sie stehen mögen in diesem Österreich." Die Volkspartei habe dabei auf ältere Gedanken, Bilder und Symbole zurückgreifen können, besonders auf die Österreich-Idee des Ständestaates, so Bruckmüller. Der zunächst von den Eliten getragene Patriotismus wandelte sich jedoch erst allmählich zu einem in der breiten Bevölkerung verankerten Nationalbewusstsein.
Radikale Verösterreicherung und deutschnationaler Backlash
Nationen definieren sich laut Bruckmüller in Abgrenzungen. Für die österreichische Nationsbildung war die Abgrenzung zu Deutschland "am problematischsten, aber auch am wichtigsten" und ist "nicht immer elegant" erfolgt. So wurde etwa am 3. September 1945 auf Betreiben des KPÖ-Staatssekretärs Ernst Fischer statt "Deutsch" das Schulfach "Unterrichtssprache" eingeführt - im Volksmund "Hurdestanisch" genannt, da diese Maßnahme fälschlicherweise Fischers Nachfolger, ÖVP-Unterrichtsminister Felix Hurdes, zugeschrieben wurde. Kultur- und bildungspolitisch setzte die ÖVP selbst auf eine "radikale Verösterreicherung", wie Rathkolb schreibt, meist unter Rückgriff auf das barocke imperiale Erbe der Monarchie und durch starke Abgrenzung vom "Preußentum". Zur Stärkung der kleinstaatlichen Identität auch vor dem Ausland wurde die Hochkultur wesentlich forciert und der Wiederaufbau von Burgtheater und Staatsoper zum nationalen Anliegen.
Nationen feiern sich nach Bruckmüller selbst in der Erinnerung an die Gründerväter, an siegreiche Revolutionen und Kriege. Die österreichische Geschichte sei jedoch bekanntlich "arm an solchen erinnerbaren Daten", die als kollektive Erfolgserlebnisse gedeutet werden konnten. Da kam der jungen Republik eine alte Urkunde zur Hilfe: Am 1. November 1946 jährte sich zum 950. Mal die Unterzeichnung der Ostarrichi-Urkunde, was zum ersten bewussten Gedenktag der Republik stilisiert wurde. In einer Festrede beschwor der nunmehrige Bundespräsident Karl Renner die "so ausgeprägte und vor allen anderen verschiedene Individualität der Österreicher" und verabschiedete damit "großdeutsche Phantasmagorien", wie Bruckmüller beschreibt - sowohl für die Republik als auch für sich selbst.
Gegenwind kam aus dem sich nun neu formierenden Dritten Lager und dem 1949 gegründeten Verband der Unabhängigen (VdU), aus dessen baldigen Zerfall 1956 die FPÖ hervorging. In seinem Ausseer Programm 1954 bekennt sich der Verband zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft: "Österreich ist ein deutscher Staat. Seine Politik muss dem gesamten deutschen Volk dienen und darf nie gegen einen anderen deutschen Staat gerichtet sein." Mit dieser Haltung repräsentierte der VdU nur eine Minderheit in der Bevölkerung und der "quasi von Amts wegen forcierte Österreichpatriotismus" wurde kaum behindert. Die Vergangenheitsbewältigung gestaltet das deutschnationale Wählersegment jedoch indirekt mit. Da es dem VdU gelang, einen Großteil der wieder zur Wahl zugelassenen ehemaligen Nationalsozialisten für sich zu gewinnen, gerieten vor allem die Konservativen unter Druck, wie Frölich-Steffen schreibt. Aus Rücksichtnahme auf diese Bevölkerungsgruppe wurden die Jahre 1938 bis 1945 im öffentlichen Leben weitgehend ausgeblendet.
Mit dem Staatsvertrag 1955 erfuhren die deutschnationalen Tendenzen eine "deutliche Belebung", da die Angst vor den Alliierten wegfiel, wie Bruckmüller schreibt. Er nennt etwa verstärkte Aktivitäten deutschnationaler Organisationen, die Abmeldungskampagne vom zweisprachigen Unterricht in Teilen Kärntens, "unrühmliche Freisprüche" auch für schwerbelastete NS-Täter und eine "immer ungünstiger" werdende Haltung österreichischer Behörden gegenüber jüdischen Opfern des Nationalsozialismus. Dazu kam der exkulpierende Konsens, Österreich sei das erste Opfer NS-Deutschlands gewesen - die sogenannte Opferthese, von der noch die Rede sein wird. "Um 1960 schien es so, als befände sich Österreich wieder auf den Weg in einen kollektiven Deutschnationalismus, mit zum Teil eindeutig nationalsozialistischen Zügen", so Bruckmüller.
Ausschlaggebend für eine auch staatliche Gegenreaktion wurde aber erst die Affäre rund um den Wirtschaftshistoriker Taras Borodajkewycz, der als Professor an der damaligen Hochschule für Welthandel für seine antisemitischen Ausfälle Bekanntheit erlangte. 1965 erhob sich dagegen Protest, unter Beteiligung des späteren Finanzministers Ferdinand Lacina und des späteren Bundespräsidenten Heinz Fischer. Der Tod des Pensionisten und ehemaligen Widerstandskämpfers Ernst Kirchweger bei Zusammenstößen von Pro- und Anti-Borodajkewycz-Demonstrierenden bildete den traurigen Höhepunkt dieser Entwicklung.
Zu den politischen Gegenreaktionen der Bundesregierung gehörte die symbolische Aufwertung des 26. Oktober als "Tag der Fahne" zum österreichischen Nationalfeiertag, die der Nationalrat am 25. Oktober 1965 einstimmig beschloss. Doch schon in der Plenarsitzung am 28. Juni 1967 lehnten die FPÖ und drei ÖVP-Abgeordnete die Regierungsvorlage über die Feiertagsruhe ab. FPÖ-Bundesparteiobmann Friedrich Peter argumentierte seine Ablehnung des "Nationalfeiertags" damit, dass es nur einen "Staatsfeiertag" geben könne, wie Rathkolb berichtet. Noch 1988 äußerte Peters Nach-Nachfolger Jörg Haider im ORF-Inlandsreport, "dass die österreichische Nation eine Missgeburt gewesen ist, eine ideologische Missgeburt. Denn die Volkszugehörigkeit ist die eine Sache und die Staatszugehörigkeit ist die andere Sache." Später orientierte Haider - auch mit Blick auf das Wählerpotenzial - seine Partei auf einen stärker österreichisch-patriotischen Kurs um. Realpolitisch war die Existenz einer eigenständigen und von der deutschen deutlich abgegrenzten österreichischen Nation seit den späten 1960er-Jahren kein wirkliches Thema mehr, wie Bruckmüller schreibt.
Ab dieser Periode habe sich ein "breites Österreichbewusstsein, das allmählich als Nationalbewusstsein interpretiert werden konnte" konsolidiert. So konnte der ehemalige Bundeskanzler Bruno Kreisky bei seiner Abschiedsrede im Parlament am 28. September 1983 sagen: "Alle Gruppen stehen heute zu unserer Fahne, sie entblößen ihr Haupt, wenn unsere Hymne erklingt. Niemand stellt heute mehr die Lebensfähigkeit Österreichs in Frage. Es ist ein neuer, sehr ruhiger und stiller Patriotismus entstanden."
Neutralität als Chiffre des österreichischen Wegs
Trotz der beschriebenen Unwägbarkeiten gilt der österreichische Prozess des "nation building" als "schnell und erfolgreich, nicht zuletzt dank der exzellenten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und außenpolitischen Entwicklungen", wie Frölich-Steffen schreibt. Oliver Rathkolb sieht es als ein "Rätsel der Zweiten Republik", wie sie sich seit 1945, als sie noch kaum eine fassbare Identität aufwies, binnen ein bis zwei Generationen "vollkommen als Kultur und Staatsnation verstand." Er identifiziert verschiedene Komponenten der österreichischen Identität, die zur raschen Nationsbildung beigetragen haben. Darunter fallen neben der Abgrenzung zu Deutschland und anderen Nachbarstaaten unter anderem der Antikommunismus, das Selbstbild als Kulturnation oder die Sozialpartnerschaft. Als wirkmächtigste "Säulen des österreichischen Identitätsdiskurses" sind jedoch die Neutralität und der Opfermythos zu betrachten, wie etwa auch Ruth Wodak ausführt.
Gerade die Neutralität wurde lange mit dem ökonomischen und sozialen Fortschritt in direkten Zusammenhang gebracht. Das am 26. Oktober 1955 beschlossene Neutralitätsgesetz gilt als "Magna Charta" der Zweiten Republik und ist als "Code für Wohlstand, Sicherheit und internationale Reputation tief im kollektiven Bewusstsein verankert", schreibt Rathkolb - auch wenn sie von Anfang an einen mehrdeutigen und vielschichtigen Verhandlungskompromiss darstellt und ihre Auslegung bis heute Gegenstand kontroverser Debatten ist. (Siehe PK 851/2025). Die Neutralität verlieh der "österreichische Selbstbezogenheit einen permanenten und besonderen Status" und spielte dem in die Hände, was Rathkolb den "nationalen Solipsismus" der Österreicherinnen und Österreicher nennt.
Wie beschrieben war das Bundesgesetz über den österreichischen Nationalfeiertag vom 25. Oktober 1965 auch eine wichtige symbolpolitische Maßnahme zur Ablösung von etwaigen noch vorhandenen Anschlussträumen. Schon die aktive Außenpolitik der 1960er-Jahre war auch als Mittel zur Identitätsförderung konzipiert. Für die österreichische Identitätsbildung besonders relevant wurde jedoch die Phase der aktiven Neutralitätspolitik ab 1970 unter Bundeskanzler Bruno Kreisky. Rathkolb spricht vom "Goldenen Zeitalter" der österreichischen Außenpolitik, in der Österreich als Brückenbauer zwischen Ost und West aber auch als Vermittler im Nahen Osten hohes weltweites Ansehen genoss. Die internationale Anerkennung stärkte die Identität des Kleinstaats, dessen weltpolitische Rolle auch auf sein inneres Selbstverständnis zurückwirkte.
Ein Höhepunkt dieser Periode des Reputationsgewinns war die Wahl Kurt Waldheims zum Generalsekretär der Vereinten Nationen im Jahr 1971. Im Zusammenhang mit einer weiteren Säule des österreichischen Identitätsdiskurses sollte Waldheim später allerdings auch zur Schlüsselfigur für einen erheblichen Reputationsverlust Österreichs werden.
Opferthese: Gründungsmythos und Selbsttäuschung
"Ich habe mich zwar hingegeben, doch nur weil ich gemußt. Geschrien habe ich nur aus Angst und nicht aus Liebe und Lust. Und daß der Hitler ein Nazi war - das habe ich nicht gewußt!", ließ Erich Kästner die Nationalallegorie Austria in einem Spottlied singen. Er nahm damit satirisch den zentralen Gründungsmythos der Zweiten Republik auf, wonach Österreich das erste Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands gewesen sei. Diese Darstellung beruht auf einer selektiven Lesart der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943, worin die Alliierten festhalten, dass "Österreich das erste freie Land [gewesen sei], das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte." Weitgehend beiseitegeschoben wurde hingegen, dass Österreich in der Deklaration auch daran erinnert wird, "dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird." Die Alliierten wollten damit den Widerstand gegen das NS-Regime in Österreich anspornen, was jedoch weitgehend wirkungslos blieb.
Diese einseitige Interpretation der Moskauer Deklaration fand auch Eingang in die von den drei Gründungsparteien der Zweiten Republik unterzeichneten Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945. Darin heißt es, dass der "Anschluss" im Jahr 1938 "durch militärische Bedrohung von außen und dem hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet [und] durch militärische und kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen worden ist".
Die Opferthese erfüllte in der Zweiten Republik mehrere zentrale politische und gesellschaftliche Funktionen. Politisch bot sie etwa einen Legitimationsrahmen für die rasche Wiedererlangung staatlicher Souveränität und die Abwehr von Restitutions- und Entschädigungsforderungen. Gesellschaftlich diente sie als Integrationsinstrument, indem Unterschiede zwischen Tätern, Mitläufern und Widerstandskämpfern während des NS-Regimes verwischt und Konflikte aus der Zwischenkriegszeit begraben wurden ("Geist der Lagerstraße"). Auf diesem stabilen, wenngleich illusionären Konsens konnte die Zweite Republik ihr politische Kultur aufbauen.
Nützlich war diese Geschichtsinterpretation auch in der Frage der Beschlagnahmung deutschen Eigentums, um möglichst viel davon als Kompensation verstaatlichen zu können. Rathkolb entnimmt Bruno Kreiskys Memoiren eine Szene, als der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer dem damaligen Staatssekretär bei Vermögensverhandlungen eröffnete: "So, österreichisches Eigentum in Deutschland? Wissen Sie, Herr Kreisky, wüsste ich, wo die Gebeine Hitlers zu finden sind, würde ich sie ihnen liebend gern als österreichisches Eigentum zurückstellen."
Die Verdrängung der positiven Aufnahme des "Anschlusses" durch weite Teile der Bevölkerung und der Mittäterschaft vieler Österreicher und Österreicherinnen an den Verbrechen des Dritten Reiches begann laut Rathkolb erst in den 1970er-Jahren aufzubrechen. Zu einer wirklichen Abkehr von der Opferthese führte erst die Affäre rund um den ehemaligen UN-Generalsekretär und nunmehrigen Bundespräsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim im Jahr 1986. Die internationale Kritik an seiner verschwiegenen Wehrmachtsvergangenheit löste eine bis dahin beispiellose öffentliche Debatte über Österreichs Rolle im Nationalsozialismus aus und erschütterte das Bild des "Opfers" nachhaltig.
Diese Erschütterung fand auch Widerhall in der wissenschaftlichen Aufarbeitung sowie in Kunst und Kultur. So löste etwa Thomas Bernhards Drama "Heldenplatz", in dem er die Themen Verdrängung, Schuld und Selbsttäuschung schonungslos aufgriff, einen der größten Theaterskandale in der Geschichte Österreichs aus. Am 8. Juli 1991 relativierte Bundeskanzler Franz Vranitzky im Nationalrat die Opferthese zum ersten Mal auch von offizieller Seite und räumte die Mitschuld vieler Österreicherinnen und Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus ein: "Wir bekennen uns zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen - bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten."
Die Entwicklung der Opferthese zeigt exemplarisch, wie sehr nationale Identität im Wandel begriffen ist. Was nach 1945 als politisch nützliches Integrationsnarrativ der Zweiten Republik diente, wurde in den folgenden Jahrzehnten zunehmend hinterfragt und schließlich als kollektive Selbsttäuschung betrachtet. Der Weg von der Entlastungs- zur Verantwortungserzählung markiert einen tiefgreifenden kulturellen Lernprozess. Wie bei individuellen Identitäten kann dieser durch Selbstreflexion, durch äußere Umstände und meist durch die Verbindung aus beidem initiiert werden. So bewirkten und bewirken auch spätere Entwicklungen wie der EU-Beitritt, verstärkte Migrationsbewegungen oder auch die Umwälzungen durch den Krieg in der Ukraine, dass die nationale Identität - oder einzelne ihrer Stränge - in einem anderen Licht erscheint. Dies bedeutet nicht, dass keine Identität vorhanden wäre, sondern dass jede Generation dem Geflecht aus Selbstdeutungen neue Schichten hinzufügt. So erweist sich Österreichs Identität als wandelbar und oftmals als widersprüchlich - ihre Wahrheit, wie Wittgenstein bemerkte, liegt "nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit." (Schluss) wit
HINWEISE: Die Beiträge bzw. Bücher von Ernst Bruckmüller, Oliver Rathkolb, Ruth Wodak, Susanne Frölich-Steffen sowie andere Werke zur österreichischen Identität finden Sie in der Parlamentsbibliothek und Stenographische Protokolle zu allen Sitzungen von Nationalrat und Bundesrat im Webportal des Parlaments.
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