- 20.10.2025, 16:40:32
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Neutralität im Wandel: Vom Moskauer Memorandum zur gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik
Diskussion zwischen Experten und Politik über zeitgemäße Interpretation bei Symposium im Parlament
Den Beschluss des Neutralitätsgesetzes vor 70 Jahren nahm Nationalratspräsident Walter Rosenkranz zum Anlass, um zu einem hochrangig besetzten Symposium ins Parlament zu laden. Im zweiten Teil der Veranstaltung beleuchteten die Gäste aus der Schweiz, die Historikerin Irène Herrmann und Joachim Adler vom Staatssekretariat für Sicherheitspolitik, nicht nur die Entwicklung des Neutralitätskonzeptes über zwei Jahrhunderte hinweg, sondern sie gingen auch auf die aktuellen Herausforderungen ein. So vertrat Adler, der für eine Stärkung der internationalen Kooperation eintrat, etwa die Auffassung, dass die Europäische Sky Shield Initiative mit der Neutralität vereinbar sei.
Im Gegensatz dazu war der Völkerrechtsexperte Peter Hilpold davon überzeugt, dass die modernen Herausforderungen der Verteidigung mit konsequenter Neutralitätspolitik kaum in Einklang zu bringen zu seien. Er sah die Politik gefordert, die Bevölkerung ehrlich und objektiv zu informieren.
Für den früheren Generalstabschef Robert Brieger stellten Neutralität und Solidarität keinen Widerspruch dar. Entscheidend sei, wie Neutralität interpretiert und gelebt werde. Offen sei für ihn aber die Frage, wie lange die traditionelle Neutralität in einer zunehmend vernetzten Sicherheitsordnung haltbar sei.
Nach den Impulsvorträgen fand noch eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen und Vertretern aller Parlamentsfraktionen statt, die vom ORF-Auslandskorrespondenten Christian Wehrschütz moderiert wurde.
Herrmann: Veränderungen der Neutralitätspolitik müssen klar erklärt werden
Irène Herrmann, Professorin für Schweizer Geschichte an der Universität Genf, wies zu Beginn ihres Referats darauf hin, dass die erste offizielle Erklärung zur Neutralität als Prinzip bereits auf das Jahr 1674 zurückzuführen sei. Mit Leben erfüllt worden sei sie erst im Jahr 1815, als im Zuge des Wiener Kongresses die Großmächte der Schweiz "die immerwährende Neutralität" garantiert hätten. Dies sei nicht aus Zuneigung geschehen, sondern weil es den europäischen Interessen entsprochen habe, erläuterte Herrmann.
Nach der Beschreibung der weiteren wichtigen geschichtlichen Eckpunkte, die für die Entwicklung des Neutralitätskonzepts entscheidend waren, stellte Herrmann die Frage, was man daraus lernen könne. Sie sei der Meinung, dass Neutralität international nur akzeptiert werde, wenn sie auch den Interessen anderer Staaten diene. Sie würde dann abgelehnt, wenn sie als einseitig oder opportunistisch erscheine. Deshalb müsste die Schweiz stets zeigen, dass ihre Neutralität nicht nur Selbstschutz sei, sondern auch einen Mehrwert für die internationale Gemeinschaft biete, hob Herrmann hervor.
Gleichzeitig sei die Neutralität zu einem Symbol nationaler Identität erhoben worden, zu einem "fast heiligen Bestandteil der schweizerischen Selbstdefinition", gab die Historikerin zu bedenken. Das erschwere jede Anpassung, weil jede Diskussion so geführt werde, als sei die Neutralitätspolitik zum Neutralitätsrecht und zum Staatsziel geworden. Noch schlimmer: Auch die internationale Gemeinschaft scheine dieser Verwechslung zu erliegen, merkte Herrmann an.
Genau deshalb sei es entscheidend, Veränderungen der Neutralitätspolitik zu erklären - nach innen wie nach außen. Nur so lasse sich etwa die "kooperative Neutralität" verständlich machen. Gerade im Ukraine-Krieg zeige sich, dass man sich nicht mehr auf die "integrale Neutralität" des Kalten Krieges zurückziehen könne. Nicht zuletzt deshalb, weil es sie in dieser Form auch nie gegeben habe. Die Neutralität habe nämlich immer den Spielraum genutzt, den das Neutralitätsrecht biete, betonte Herrmann. Aus historischer Perspektive erscheine es für die Schweiz überaus wichtig, ihre Werte klar zu artikulieren. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die internationale Gemeinschaft - wie einst im Jahr 1674 - die Neutralität wieder als Ausdruck von Schwäche oder Feigheit betrachten würde.
Adler: Internationale Kooperation muss weiter gestärkt werden
Die militärischen Aspekte der Schweizer Neutralität standen dann im Fokus des Vortrags von Joachim Adler, dem Leiter der Verteidigungspolitik im Staatssekretariat für Sicherheitspolitik in der Schweiz. Da die Schweiz auf keinen Beistand zählen könne, habe sie den Anspruch, sich soweit als möglich eigenständig zu verteidigen, führte Adler aus. Deshalb spreche man auch von der "bewaffneten Neutralität".
Aufgrund der umfassenden Bedrohungen durch neue Waffen und Bedrohungen wie etwa im Cyber- und Weltraum sei dafür aber kaum ein europäisches Land ausreichend vorbereitet, gab er zu bedenken. Wichtig seien daher internationale Kooperationen, um nicht nur die eigenen Fähigkeiten zu stärken (z.B. durch Erfahrungsaustausch oder gemeinsame Beschaffung), sondern auch um sich gemeinsam mit anderen Ländern auf die Verteidigung vorzubereiten und um die Bereitschaft der Partner zur Zusammenarbeit zu erhöhen. Niemand müsse der Schweiz helfen, betonte Adler, aber wenn sie das wolle, dann müsse sie etwas dafür tun. Deshalb sollte in Zukunft im Bereich der militärischen Friedensförderung noch mehr getan werden. Die Schweiz sei gefordert, immer wieder den Beweis zu erbringen, als neutrales Land eine Mitverantwortung an Europas Sicherheit tragen zu wollen, betonte er.
Was die Europäische Sky Shield Initiative angeht, so erfülle sie all die genannten Ziele, war Adler überzeugt. Der Vertrag enthalte nichts, was mit der Neutralität unvereinbar wäre. Außerdem sei eine Suspendierungsklausel verankert worden, die die Schweiz und Österreich gemeinsam erwirkt hätten. Somit könne "jederzeit der Stecker gezogen werden".
Hilpold sieht Politik gefordert und plädiert für ehrliche, objektive Diskussion
Die österreichische Neutralität sei zu einem Zeitpunkt entstanden, als es noch ein
"Jus ad bellum" (Recht zur Anwendung von Gewalt) gegeben habe, leitete Peter Hilpold, Professor für Völkerrecht, Europarecht und vergleichendes öffentliches Recht an der Universität Innsbruck, seine Ausführungen ein. Vor diesem Hintergrund müsse daher die Frage beantwortet werden, welchen Stellenwert die Neutralität im Jahr 2025 noch haben könne.
Aus historischer Sicht könne jedenfalls kein Zweifel daran bestehen, dass die Neutralitätserklärung eine politische Vorbedingung für die Wiedergewinnung der vollen Souveränität Österreichs im Jahr 1955 gewesen sei. Angesichts der während des Kalten Krieges herrschenden "extremen politischen Anspannungen" könne dieser Aspekt gar nicht hoch genug bewertet werden. Die Neutralität habe es auch ermöglicht, wirtschaftlich einen eigenen Weg zu gehen, als der Beitritt zur EWG über Jahrzehnte hin nicht möglich gewesen sei. Letztendlich sei die Neutralität Teil der österreichischen Identität geworden, betonte Hilpold, und habe "ganz großes Gewicht".
Auch wenn im Völkerrecht wenig vom Neutralitätsrecht übrig geblieben sei, sei realistisch betrachtet "die Aufgabe der Neutralität aktuell keine Option", konstatierte Hilpold. Der Begriff sei - ebenso wie in der Schweiz - viel zu sehr positiv besetzt. Das Bekenntnis dazu sei im Parteienwettbewerb daher "fast ein Muss", weil man sonst Zustimmung verlieren würde. Man dürfe daher die damit verbundenen Schwierigkeiten für die politischen Entscheidungsträger nicht unterschätzen, gab der Rechtswissenschaftler zu bedenken.
Die modernen Herausforderungen der Verteidigung seien mit konsequenter Neutralitätspolitik nämlich kaum in Einklang zu bringen, erklärte Hilpold, der als Beispiel dafür auf die Beteiligung an der Europäischen Sky Shield Initiative verwies. Wenn es sich dabei um mehr als "eine bloße Einkaufsplattform" handeln sollte, dann liege ein Verteidigungsbündnis vor, was aber mit dem Neutralitätsgesetz nicht vereinbar sei. Erschwerend komme noch hinzu, dass diese Initiative keine EU-rechtliche sei, führte der Universitätsprofessor ins Treffen. Ähnliches gelte für die sogenannte Friedensfazilität, an der neutrale und nicht-neutrale Staaten genau gleich beteiligt seien. Von der Europäischen Union werde Österreichs nominelles Festhalten an der Neutralität akzeptiert, solange Österreich den erwarteten Solidarbeitrag erbringe, resümierte Hilpold. All diese Fragen müssten ehrlich und objektiv diskutiert werden, appellierte er, wofür Foren wie das heutige einen wichtigen Beitrag leisten würden.
Brieger: Neutralität und Solidarität - ein Gegensatz?
Nachdem sich weltweit und vor allem in Europa die sicherheitspolitische Lage deutlich verschlechtert habe, erachte er eine Diskussion über die Neutralität und Österreichs Positionierung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) für sehr wichtig, meinte General i.R. Robert Brieger. Spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine habe man sich nämlich von der Illusion verabschieden müssen, dass "Wandel durch Handel" die internationalen Probleme lösen könne.
Aus österreichischer Sicht müsse vor allem die Frage beantwortet werden, wie ein neutrales EU-Mitgliedsland solidarisch handeln könne, zeigte der ehemalige Generalstabschef des Bundesheeres auf. Vor allem in den letzten drei Jahren habe die Union die militärische Expertise ausgebaut, wobei als Ziele die gemeinsame Sicherheit, die Verantwortungsteilung und die internationale Krisenbewältigung verfolgt würden. Dafür sei etwa das Instrument der "Battle Groups" entwickelt worden, an denen sich Österreich mehrfach beteiligt habe.
Da sich aber die Frage der territorialen Verteidigung vermehrt stelle, habe die EU entsprechende Institutionen aufgebaut, wie etwa die Etablierung eines eigenen Kommissars für Verteidigung und den Weltraum. Eine zentrale Rolle spiele auch das Weißbuch für die "Europäische Verteidigung 2030", wobei die konkreten Konturen der Verteidigungsunion noch nicht absehbar seien, berichtete der frühere Vorsitzende des Militärausschusses der Europäischen Union.
Laut Brieger stehe Österreich vor der Aufgabe, Neutralität zeitgemäß zu interpretieren. Solidarität in der EU sei kein Widerspruch, sondern eine Erweiterung des Neutralitätsverständnisses, urteilte er. Neutralität sei als völkerrechtlicher Status ein schützenswertes Gut, umfasse aber aufgrund der Einbettung Österreichs in die Gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU durchaus Maßnahmen der Solidarität, sowohl in nicht-militärischer als auch militärischer Form. Damit verbunden sei der Ausbau der militärischen Kapazitäten, um Neutralität glaubwürdig leben zu können und um die Anerkennung der Partnerstaaten sowie Nachbarländer zu gewinnen.
Es bleibe aber die offene Frage, wie lange die traditionelle Neutralität in einer zunehmend vernetzten Sicherheitsordnung haltbar sei. Dies müsse insbesondere vor dem Hintergrund einer - wie im Vertrag von Lissabon vorgesehenen - Weiterentwicklung der GSVP beantwortet werden. Dazu zählten etwa Aufgaben der territorialen Verteidigung Europas, zumal das Engagement der USA in der NATO zunehmend schwinden würde.
Bei der danach stattfindenden Diskussion mit der außenpolitischen Sprecherin der FPÖ Susanne Fürst und den Verteidigungssprechern der anderen Parteien Friedrich Ofenauer (ÖVP), Robert Laimer (SPÖ), Douglas Hoyos-Trauttmansdorff (NEOS) und David Stögmüller (Grüne) ging es unter anderem um Österreichs Teilnahme an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Dabei gab es durchaus unterschiedliche Zugänge zum Thema Neutralität, wobei die militärische Neutralität Österreichs von niemandem in Frage gestellt wurde. Es brauche aber Kooperation mit den anderen EU-Ländern, um die Sicherheit in Österreich zu erhöhen und das Land im Bedarfsfall schützen zu können, so der verbreitete Tenor.
FPÖ: Neutralität wird "Stück für Stück abgetragen"
Wie weit die Zusammenarbeit mit anderen EU-Ländern gehen kann und wie weit Solidarität gehen soll, darüber gab es allerdings unterschiedliche Ansichten. So warf FPÖ-Abgeordnete Susanne Fürst der Regierung vor, die Neutralität "Stück für Stück abzutragen", obwohl diese völkerrechtlich verbindlich sei. Die Neutralität ist ihrer Meinung nach aber "ein wichtiger und wertvoller Schatz", den es zu bewahren gelte. Gerade in Zeiten wie diesen sei eine aktive Neutralitätspolitik Österreich wichtiger denn je, mahnte sie. Neutralität könne "einen wertvollen Beitrag zu Frieden auf der Welt leisten". Nach Meinung von Fürst muss Österreich auch innerhalb der EU auf der Neutralität beharren. Die Teilnahme an einer gemeinsamen Verteidigungspolitik oder die Teilnahme an Sky Shield hält Fürst mit der Neutralität Österreichs nicht vereinbar - wolle man derartige Schritte setzen, müsste man davor das Volk fragen.
ÖVP will zwischen militärischer und politischer Neutralität unterscheiden
Demgegenüber sieht ÖVP-Verteidigungssprecher Friedrich Ofenauer in der Neutralität kein Hindernis, um aktiv an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU teilzunehmen. Die Neutralität habe in der Bevölkerung eine identitätsstiftende Wirkung, betonte er, trotz Neutralität habe sich Österreich in der EU aber immer schon solidarisch verhalten. Diese Position sei auch verfassungsrechtlich abgesichert. Ofenauer gab außerdem zu bedenken, dass auch die Pflicht, sich selbst zu verteidigen, zur Neutralität gehöre. In Richtung FPÖ sagte Ofenauer, man müsse zwischen militärischer und politischer Neutralität unterscheiden: Das militärische Verschieben von Staatsgrenzen müsse man als solches benennen und den angegriffenen Staat unterstützen können.
Grüne: Neutralität "im strengsten Sinn" bedeutet Isolation
Wenig davon, die Neutralität "eng auszulegen", hält auch David Stögmüller (Grüne). Neutralität im strengsten Sinn würde Isolation bedeuten, machte er geltend. Er begrüßte in diesem Sinn, dass Österreich "seinen Kompass" auf Zusammenarbeit mit den anderen EU-Ländern ausgerichtet habe. Es brauche eine engere Kooperation im Bereich der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ist er überzeugt. Projekte wie Sky Shield würden Stögmüller zufolge außerdem dazu beitragen, dass Österreich seinen Luftraum beherrschen und so seine Neutralität militärisch verteidigen könne. Dazu brauche es einen Radar-Austausch mit anderen Staaten. Auch die vorgesehene schrittweise Erhöhung des heimischen Militärbudgets hält Stögmüller für nötig.
NEOS: Österreich befindet sich mitten in einem hybriden Krieg
Seitens der NEOS gab Douglas Hoyos-Trauttmansdorff zu bedenken, dass Österreich mitten in einem "hybriden Krieg" sei. Es gebe keine Oase mehr in der Mitte Europas. "Wir müssen aufwachen und der Realität ins Auge schauen", meinte er. Die NEOS seien "für ein gemeinsames, starkes Europa". Die Neutralität "in der klassischen Form" ist nach Ansicht von Hoyos-Trauttmansdorff passé, Österreich müsse Verantwortung übernehmen. Mit dem beschlossenen klaren Rahmenplan für eine Steigerung der Budgetmittel für das Heer nehme man diese notwendige Verantwortung wahr.
SPÖ für aktive Neutralitätspolitik
Für eine aktive Neutralitätspolitik sprach sich SPÖ-Abgeordneter Robert Laimer aus. Er sieht es als einen strategischen Vorteil, dass Österreich das einzige neutrale Land am Festland in der EU ist. Diesen Vorteil sollte man nutzen, meinte er. Neutralität dürfe aber nicht bedeuten "nichts hören, nichts sehen, nichts sprechen", vielmehr gehe es um den Grundsatz "einmischen, wann möglich, heraushalten wann nötig". Ausdrücklich bekannte sich Laimer auch zu einer Stärkung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU. (Schluss Symposium) sue/gs
HINWEIS: Fotos dieser Veranstaltung sowie eine Nachschau auf vergangene Veranstaltungen finden Sie im Webportal des Parlaments . Das Symposium wurde live in der Mediathek des Parlaments übertragen und ist dort als Video-on-Demand abrufbar.
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