• 17.10.2025, 08:48:33
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80 70 30: Österreichs Neutralität zwischen Identität und Stagnation

Politikwissenschaftler Martin Senn über das stabile Bekenntnis zur Neutralität und eine notwendige Debatte

Wien (PK) - 

Von "lebhaftem Beifall" liest man oft, wenn man einen Blick in die Stenographischen Protokolle des Jahres 1955 wirft. Nach dem Staatsvertrag folgte am 26. Oktober ein weiterer Meilenstein, der mit Applaus gefeiert wurde: der Nationalrat beschloss das Neutralitätsgesetz. Seitdem sind 70 Jahre vergangen und die "immerwährende Neutralität", wie sie im Verfassungsgesetz festgehalten ist, hat mehrere Phasen durchgemacht. Wie es um das Bekenntnis zur Neutralität heute steht und welche Debatte es über die zukünftige Ausgestaltung braucht, hat die Parlamentskorrespondenz mit dem Neutralitätsforscher Martin Senn besprochen. Er hat dafür auch die aktuellsten Umfragedaten zur Verfügung gestellt.

Immerwährende Neutralität als Verfassungsgesetz

Am 26. Oktober 1955, einen Tag nach Ende der Frist zum Abzug der Besatzungstruppen und damit in der ersten Nationalratssitzung im endgültig freien Österreich, beschloss der Nationalrat das Neutralitätsgesetz. "Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen", heißt es darin. Und: "Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen."

Österreich legte seine Neutralität also von sich aus mit einem Verfassungsgesetz fest. Dem vorangegangen waren zähe Verhandlungen mit den Alliierten zum Staatsvertrag (siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 387/2025). Das Moskauer Memorandum, in dem Österreich seine Absicht zur Neutralität festgehalten und die UdSSR im Gegenzug die Zustimmung zum Staatsvertrag zugesichert hat, brachte den Durchbruch zur Freiheit Österreichs. Aber die Neutralität ist nicht in einem völkerrechtlichen Vertrag wie dem Staatsvertrag verankert, sondern in einem innerstaatlichen Rechtsakt.

In vier Phasen hin zur Stagnation

Seit ihrem Beschluss vor 70 Jahren hat die Neutralität mehrere Phasen durchlaufen, zeigt der Politikwissenschaftler Martin Senn in seinem neuen Buch "Österreichs Neutralität" auf. Zunächst die Phase der Konsolidierung: Nach Abschluss des Staatsvertrags bis zirka zum Jahr 1970 begann Österreich, eine international engagierte Neutralität herauszubilden und trat etwa der UNO bei. Diesen Kurs führte das Land bis in die Mitte der 1980er-Jahre weiter und engagierte sich in der Phase der Expansion als Vermittler in internationalen Konflikten. Prägend für diese Zeit war auch der Bau der UNO-City in Wien in den 1970er-Jahren. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und durch den EU-Beitritt begann Österreich in einer Phase der Reorientierung, die Neutralität differentiell auszurichten. Man räumte sich Bereiche ein, in denen man die Neutralität aussetzen konnte und beteiligte sich etwa an Sanktionen der Vereinten Nationen und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Seit Mitte der 2000er-Jahre sieht Senn eine Phase der Stagnation. Die politische Debatte über das Wesen, den Wert, die Weiterentwicklung oder das Widerrufen der Neutralität im 21. Jahrhundert sei zum Erliegen gekommen.

Experte: Man muss Bevölkerung auf europäischen Beistandsfall vorbereiten

Senn sieht darin ein Problem. In den vergangenen 20, 30 Jahren hätten sich die wesentlichen Rahmenbedingungen der österreichischen Außen- und Sicherheitspolitik geändert. "Wir haben es derzeit mit der Situation zu tun, dass wir einerseits mit einer neoimperial aggressiven Außenpolitik Russlands umgehen müssen und andererseits mit dem Umstand, dass die Vereinigten Staaten als langer Garant europäischer Sicherheit sich tendenziell von Europa entfernen", sagt Senn. Österreich sollte sich überlegen, wie man die Neutralität an diese neuen Bedingungen anpassen könne. Dafür brauche es eine Debatte in und mit der Öffentlichkeit, so der Wissenschaftler.

Auch der durch den EU-Beitritt in die österreichische Verfassung aufgenommene Artikel 23j spielt hier eine Rolle. Er legt fest, dass Österreich an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU teilnimmt - laut Senn eine sehr weitreichende Bestimmung. Denn im Fall, dass ein EU-Mitgliedstaat angegriffen wird, könnte Österreich laut Gesetz "einiges tun, was vielleicht für den einen oder die andere als unvereinbar scheint mit der Neutralität". Man müsste mit der Öffentlichkeit diskutieren und die Bevölkerung darauf vorbereiten, welche Optionen Österreich hätte, wenn es zu einem europäischen Beistandsfall kommen sollte, fordert Senn.

Neutralität in der österreichischen DNA

Die Daten zeigen: Neutralität ist fest in der Identität der Österreicher:innen verankert. Martin Senn führt an der Universität Innsbruck in Kooperation mit dem Außenministerium das "Austrian Foreign Policy Panel Project (AFP3) " durch. Das Team erhebt in der Langzeitstudie seit 2023 die Einstellungen der österreichischen Bevölkerung zur Außen- und Sicherheitspolitik - und damit auch zur Neutralität. Senn hat der Parlamentskorrespondenz die Daten der dritten Befragungswelle vom Sommer 2025 zur Verfügung gestellt.

80 % der Befragten sehen die Neutralität demnach als Teil der österreichischen Identität. Das liegt laut Senn daran, dass die Neutralität Teil der politischen Erzählung ist, die in Österreich seit 70 Jahren vermittelt wird. "Die Neutralität ist Teil des Staatsbildungsprozesses der Zweiten Republik, sie ist ein wesentlicher Teil der Erzählung, was Österreich nach 1945 und 1955 ist und wer wir sein wollen. Und sie ist auch Teil der Erzählung, wer wir nicht sein wollen", sagt der Politikwissenschaftler. Sie sei eine Möglichkeit gewesen, einen klaren Trennstrich zur kriegerischen Vergangenheit zu ziehen. In diesem Sinne sei in der Vergangenheit der militärische Aspekt, also die bewaffnete Dimension der Neutralität, eher an den Rand gedrängt worden. Die Politik habe sich stärker auf Aspekte der Diplomatie konzentriert. Österreichs Neutralität war - unter anderem durch den UNO-Betritt bereits im Jahr 1955 - von Beginn an eine international orientierte und engagierte, erläutert Senn.

Stabiles Bekenntnis zur Neutralität mit Veränderungen bei den Jungen

70 Jahre später fällt in den Daten auf: Jüngere Befragte sehen Neutralität und Identität weniger stark verknüpft als ältere. 88 % der Über-60-Jährigen stimmen der Neutralität als Identitätsmerkmal zu, während es bei den 18- bis 29-Jährigen nur 65 % sind. Für Martin Senn hängt das damit zusammen, dass die Neutralität in den vergangenen 20 Jahren im öffentlichen Raum wenig präsent war. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 ändere sich das wieder. Doch vor der "Zeitenwende" sei Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung ein Thema der Vergangenheit gewesen. "Wenn Krieg der Vergangenheit angehört, ist auch die Neutralität wenig relevant, weil sie immer im Bezug zu kriegerischen Auseinandersetzungen steht", sagt Senn. Die junge Generation sei in den prägenden Jahren ihrer politischen Sozialisation dementsprechend wenig mit der Neutralität in Berührung gekommen.

Trotz mancher Veränderungen gibt es dennoch eine solide Mehrheit für die Beibehaltung der Neutralität in ihrer derzeitigen Form. 59 % der Befragten sprechen sich dafür aus. 36 % würden sich eine umfassendere Neutralität wünschen, 13 % sind für einen NATO-Betritt und nur 9 % würden die Neutralität aufgeben wollen, ohne der NATO beizutreten. Insgesamt konnte das Forschungsteam bei den Fragen zur Neutralität eine Konstanz über die Jahre hinweg feststellen. "Das Bekenntnis zur Neutralität ist stabil", fasst Martin Senn zusammen.

Neutralität im Dilemma zwischen Ankerpunkt und Weiterentwicklung

Die Ergebnisse seiner Forschung zeigen für Senn, wie wirkmächtig die Neutralität als "politischer Mythos" ist. Ein politischer Mythos ist ein Bezugspunkt für Gemeinschaften, eine Erzählung, die Halt gibt. Er bietet Orientierung und ist vor allem wichtig, wenn die Umgebung stark im Wandel ist.

Doch Senn sieht darin ein Dilemma. Denn einerseits gibt die Erzählung über die Neutralität in der aktuellen Phase des Umbruchs Halt, andererseits sollte sie genau jetzt auf den Prüfstand gestellt und an die neuen Rahmenbedingungen angepasst werden. "Das kann man schwer unter einen Hut bringen", sagt der Wissenschaftler. Er plädiert dafür, anzuerkennen, dass Neutralität als Erzählung ein wichtiger Ankerpunkt für die Gesellschaft ist. Davon ausgehend müsste man behutsam vorgehen und mit der Bevölkerung gemeinsam überlegen, ob und wie man die Neutralität fit für das 21. Jahrhundert machen kann. Man sollte nicht über "Neutralität - ja oder nein" oder "Neutral bleiben oder der NATO beitreten" diskutieren, so Senn.

Debatte über Neutralität könnte sie "erden und austarieren"

Würde man die Neutralitätsdebatte führen, würde sich in manchen Fragen wohl wenig verändern, ist Martin Senn überzeugt. Die hohe Zustimmung zur Neutralität als Teil der Identität und zu ihrer Beibehaltung würde wahrscheinlich bestehen bleiben.

Aber bei gewissen Aspekten würde sich vielleicht die Wahrnehmung ändern. Senn führt etwa die Überzeugung an, dass die Neutralität Österreichs ein wichtiger Anziehungspunkt für internationale Organisationen ist. 71 % der Befragten sind laut den jüngsten Daten des AFP3 dieser Meinung. Dabei sind oft auch andere Faktoren wie steuerliche Vergünstigungen, die Lage und die Verkehrsanbindung ausschlaggebend dafür, warum sich internationale Organisationen in Wien ansiedeln.

70 % der Befragten glauben außerdem, dass die Neutralität wichtig für die Fähigkeit Österreichs ist, in internationalen Konflikten zu vermitteln. Auch diese Werte könnten laut Senn sinken, wenn man eine differenzierte Neutralitätsdebatte führen würde. Denn in der Praxis spielen viele andere Faktoren - etwa die Expertise oder das Vertrauen, das vermittelnden Staaten zugeschrieben wird - eine große Rolle.

Insgesamt sollte man laut Senn die Neutralität erden und austarieren. "Man muss die Neutralität also zunächst einmal auf den Boden der Tatsachen zurückholen", sagt er. Die Neutralität sei in der Vergangenheit mit Wirkungen in Zusammenhang gebracht worden, die sie nicht oder nicht mehr hatte, wie im Fall der Ansiedlung internationaler Organisationen. Austarieren müsse man die Neutralität laut Senn in zwei Richtungen. Zum einen sollte ihre militärische Dimension, also die bewaffnete Neutralität, gestärkt werden. Zum anderen müsse sie in Bezug zu europäischer Solidarität im Bereich von Sicherheit und Verteidigung gesetzt werden.

Parlament als Ort für breite Diskussion

Das Parlament könnte laut dem Politikwissenschaftler einen wichtigen Beitrag für die Debatte über Neutralität leisten. Die Diskussion sollte aber nicht auf die Ebene von Politiker:innen oder Expert:innen beschränkt sein. "Man muss die Debatte auf jeden Fall auch hinaustragen in die Bevölkerung", sagt Senn.

Das aktuelle Jubiläumsjahr biete dafür gute Anknüpfungspunkte. Aber der Experte ist überzeugt, dass man die Fragen über das Gedenken hinaus behandeln muss und insbesondere junge Menschen in die Diskussion mit einbeziehen muss. Und das Wichtigste: Sicherheitspolitik dürfe nicht auf die Neutralität reduziert werden. Vielmehr müsse die Debatte über Neutralität ein Baustein einer größeren Auseinandersetzung über Außen- und Sicherheitspolitik sein. (Schluss) kar

HINWEISE: Fotos und Grafiken von Martin Senn und seiner Forschung finden Sie im Webportal des Parlaments. Ein Fachdossier zur österreichischen Neutralität und einen Blick ins Archiv mit historischen Dokumenten finden Sie in den Fachinfos des Parlaments. Auch eine Podcast-Folge mit dem Politikwissenschaftler Ralph Janik beschäftigt sich mit der Neutralität.

Das Parlament beleuchtet 2025 drei Meilensteine der Demokratiegeschichte. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt 2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu-beitritt .


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