• 06.10.2025, 09:15:33
  • /
  • OTS0027

80 70 30: Österreich als geheimer Verbündeter, Brückenbauer oder Trittbrettfahrer?

Rückblick auf 70 Jahre Sicherheitspolitik zwischen Neutralität, internationaler Einbindung und neuen Bedrohungen

Wien (PK) - 

Sicherheitspolitik war für Österreich seit der Wiedererlangung seiner Souveränität 1955 stets mehr als eine Frage militärischer Stärke. Sie spiegelte den Versuch wider, inmitten wechselnder internationaler Rahmenbedingungen eine stabile Rolle zu finden - als souveräner Staat, als verlässlicher Partner in multilateralen Strukturen und als Bewahrer einer besonderen politischen Identität. Dabei verschoben sich die Schwerpunkte je nach Epoche: vom Aufbau der Landesverteidigung nach dem Staatsvertrag über die sicherheitspolitische Positionierung im Kalten Krieg bis hin zur Neuorientierung nach 1989 und den aktuellen Herausforderungen einer instabiler werdenden Weltordnung. Der folgende Überblick zeichnet diese Entwicklungslinien nach und zeigt, wie Österreichs Sicherheitspolitik in den vergangenen sieben Jahrzehnten geprägt, hinterfragt und immer wieder neu definiert wurde.

Sicherheitspolitische Zeitenwende

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ab Februar 2022 rückte die militärische Landesverteidigung schlagartig ins Zentrum des politischen Interesses. In ganz Europa und darüber hinaus war von einem "gravierenden Umbruch", einer "Zäsur in der europäischen Sicherheitsarchitektur" und einer "Zeitenwende" die Rede. Für etwa drei Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Krieges schien sich Sicherheitspolitik auf "polizeiliche" Aufgaben etwa zur Terrorismusabwehr oder auf Friedensmissionen zur Stabilisierung von Krisengebieten zu beschränken. Nun ist der konventionelle Krieg nach Europa zurückgekehrt, und die vielzitierte regelbasierte Weltordnung verliert an Boden, zugunsten einer überwunden geglaubten Interessens- und Großraumpolitik.

Auch die aktuelle Österreichische Sicherheitsstrategie, die nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine erneuert wurde, konstatiert eine "fundamental veränderte" nationale und internationale Sicherheitslage. Für Österreich stellt sich die Frage der Verteidigungsfähigkeit jedoch in besonderer Weise, da das Land aufgrund seiner Neutralität eine Sonderstellung einnimmt. Eine effektive militärische Landesverteidigung im Alleingang erscheint illusorisch, ein Beitritt zu einem Militärbündnis wiederum würde einen Bruch mit einer zentralen Tradition bedeuten. Eng damit verknüpft ist auch das österreichische Selbstverständnis, verkörpert durch das am 26. Oktober 1955 beschlossene Neutralitätsgesetz, das Historiker Oliver Rathkolb als "Magna Charta" der Zweiten Republik bezeichnet.

Dieses Spannungsfeld begleitet Österreich jedoch nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine, sondern beschäftigt Politik und Fachwelt bereits seit der Unterzeichnung des Staatsvertrags und der Wiedererlangung der Souveränität im Jahr 1955. Seither war die österreichische Sicherheitspolitik mehrfach gezwungen, sich an tiefgreifend veränderte äußere Rahmenbedingungen wie auch interne politische Konstellationen anzupassen. Dabei wandelte sich nicht nur die institutionelle Ausrichtung, sondern auch das Verständnis von Sicherheit selbst - von einer rein militärischen Sichtweise hin zu einem umfassenden Begriff, der militärische, innere, wirtschaftliche und gesellschaftliche Dimensionen einschließt.

Das "zu spät gekommene" Bundesheer

Politikwissenschaftler Franz Eder zeichnet diesen Wandel in der Zweiten Republik in seinem Beitrag über Sicherheitspolitik im "Handbuch Außenpolitik Österreichs" nach, weg von einem rein militärisch gedachten Sicherheitsbegriff hin zu einem umfassenderen Verständnis von Bedrohungen, deren Ursachen sowohl außerhalb als auch innerhalb eines Staates zu finden sind. Die strikte Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit verlor im Laufe der Jahrzehnte zunehmend an Bedeutung.

Zunächst entwickelten sich beide Sphären jedoch unabhängig und zeitlich versetzt voneinander. Der Aufbau der österreichischen Polizei inklusive des Staatspolizeilichen Dienstes (STAPO) als nachrichtendienstlicher Organisation erfolgte unmittelbar nach Kriegsende 1945. Diese hatten die Aufgabe, die öffentliche Ordnung des jungen Staates aufrechtzuerhalten, was in den 1950er-Jahren vor allem bedeutete, kommunistische Entwicklungen im Auge zu behalten. Als kleines Land mit begrenzten nachrichtendienstlichen Fähigkeiten war Österreich ein "Nettoempfänger" von nachrichtendienstlichen Fähigkeiten und auf internationalen Austausch angewiesen, wie Eder schreibt. Im Bereich der inneren Sicherheit führte dies schon früh zu einem Internationalisierungsschub, der in der äußeren und militärischen Sicherheitspolitik erst nach dem Ende des Kalten Krieges schrittweise einsetzte.

Da das Verteidigungsressort hingegen erst 1955 und damit zehn Jahre nach allen anderen Ministerien wiedergegründet wurde, stellte das Bundesheer laut Eder generell einen "zu spät gekommenen" politischen Akteur dar, dem im "bürokratischen Wettstreit" nur wenige Ressourcen überlassen wurden. Darüber herrschte nicht nur innerhalb der Sozialdemokratie Einigkeit, die wegen der Rolle des Bundesheers im österreichischen Bürgerkrieg ein besonders distanziertes Verhältnis zum Militär pflegte. Der SPÖ-Abgeordnete Peter Strasser brachte diese Haltung bei einer Rede im Nationalrat am 18. Juli 1956 auf den Punkt: "Wir Sozialisten haben eben überall an der Aufstellung einer Wehrmacht an und für sich wenig Freude und haben uns nur aus staatspolitischen Notwendigkeiten dazu bekannt". Aber auch etwa die sozialpartnerschaftlichen Interessensverbände wollten im Rahmen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der Landesverteidigung lediglich die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen, um den "Minimalforderungen der Neutralität" zu entsprechen, so Eder. Diese Rahmenbedingungen sollten sich jahrzehntelang nicht grundlegend ändern und erst mit dem Beginn des aktuellen Krieges in der Ukraine vollzog sich ein parteiübergreifender Schwenk in Richtung einer ausreichenden budgetären Ausstattung des Bundesheeres.

Neutralität als Pfeiler der österreichischen Eigenstaatlichkeit und Identität

Das am 26. Oktober 1955 beschlossene Neutralitätsgesetz stellte neben der Ressourcenknappheit und Österreichs geografischer Lage am Schnittpunkt des Ost-West-Konflikts den bestimmenden Faktor der österreichischen Sicherheitspolitik dar. Das Bekenntnis zur Neutralität ist bis heute breiter politischer Konsens, ihre Auslegung jedoch spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges Gegenstand kontroverser Debatten. Nach Schweizer Vorbild verpflichtete sich Österreich, keinem militärischen Bündnis beizutreten oder im Kriegsfall Stellung zu beziehen. Im Gegensatz zur Schweiz trat Österreich aber bereits im Dezember 1955 den Vereinten Nationen bei und erklärte sich 1960 erstmals bereit, mit einem kleinen Sanitätskontingent des

Bundesheeres an einem internationalen Einsatz im Kongo teilzunehmen.

In den ersten 15 Jahren ihrer Sicherheitspolitik war die junge Republik darauf bedacht, ihre staatliche Existenz dahingehend abzusichern, dass man keiner Seite in der Systemkonfrontation zu offensichtlich nahestand. Die Neutralität wurde von einer völkerrechtlichen Zwischen- und Kompromisslösung mit den Besatzungsmächten zu einem "Pfeiler der österreichischen Identität", der mit sozialem Aufschwung, Sicherheit und Frieden gleichgesetzt wurde, wie Historiker Oliver Rathkolb in seinem Buch "Die paradoxe Republik" beschreibt.

In den 1950er-Jahren war der Neutralitätsbegriff noch ideologisch prokommunistisch gefärbt, da die Sowjetunion und kommunistische Parteien in Europa das atomare Übergewicht des Westens durch die Forderung nach neutralen Zonen zu kompensieren versuchten. Zudem hatte die österreichische Neutralität für die Sowjetunion den Vorteil, dass damit ein "Anschluss" an die Bundesrepublik Deutschland - sei es auch nur ein wirtschaftlicher - vermieden und der Sowjetunion indirekt Interventionsmöglichkeiten eingeräumt werden konnten.

Gleichzeitig stand die ökonomische, politische und kulturelle Westorientierung Österreichs bereits 1945 außer Frage. Der Antikommunismus insbesondere in Abgrenzung zu den kommunistischen Nachbarstaaten stellte nach dem Zweiten Weltkrieg ein wesentliches Element zur Stärkung des Glaubens an die Kleinstaatlichkeit dar. Zudem konnte die angeblich ständige kommunistische Bedrohung geschickt als Argument gegenüber den USA ausgespielt werden, um ein Maximum an finanzieller und politischer Unterstützung zu erzielen. So erhielt Österreich eine der höchsten Pro-Kopf-Quoten an Mashall-Plan-Hilfe, wie Rathkolb festhält.

War die Errichtung eines Heeres der Provisorischen Staatsregierung Renner 1945 noch untersagt worden, stellte die Remilitarisierung Österreichs für die Besatzungsmacht USA seit 1949 einen zentralen Bestandteil des Staatsvertragsabschlusses dar. Da man eine kommunistische Machtergreifung von innen befürchtete, wurde im Rahmen der sogenannten B-Gendarmerie sukzessive der Kern einer prowestlichen Truppe aufgebaut. Die Neutralität Österreichs war also laut Rathkolb von Beginn an ein mehrdeutiger und vielschichtiger Verhandlungskompromiss, und keineswegs eine von allen Akteuren klar definierte Lösung.

Das eigentümliche Paradox österreichischer Verteidigungspolitik

Der Konsens einer sparsamen Landesverteidigung dominierte auch die die sogenannte Ära Kreisky ab 1970. Prägend für diese Phase war das Konzept der "Raum- bzw. Territorialverteidigung", der sogenannten "Spannocchi-Doktrin" - benannt nach dem österreichischen General Emil Spannocchi. Deren Hintergrund waren Hinweise, wonach der Warschauer Pakt im Kriegsfall eine Spaltung der NATO-Truppen in Nord und Süd durch einen Vormarsch durch Österreich anstreben könnte. In diesem Fall wäre die Verteidigung Österreichs nicht an der Staatsgrenze geplant gewesen, sondern die Konzentration auf Schlüsselzonen im Land. So wollte man das Eindringen feindlicher Truppen verzögern, der NATO mehr Zeit für Gegenmaßnahmen verschaffen und somit einen Angriff auf Österreich strategisch möglichst unattraktiv machen.

Diese Strategie macht das "eigentümliche Paradox" österreichischer Sicherheitspolitik deutlich sichtbar, so Rathkolb. Auch wenn Österreich in dieser Phase des Kalten Kriegs sehr bemüht um Äquidistanz zu allen Mächten war, wurde die Bedrohung insgeheim doch als aus dem Osten kommend gesehen, und die Wahrung der militärischen Sicherheit immer im Zusammenspiel mit den westlichen Mächten verstanden. Rathkolb identifiziert Österreich in diesem Zusammenhang als einen "geheimen Verbündeten" der NATO.

Die Spannocchi-Doktrin ermöglichte es zudem, die notwendigen Mittel für eine aktive Neutralitäts- und Außenpolitik zur Verfügung zu haben. Die Sicherheit Österreichs, so das Argument der SPÖ-Alleinregierung unter Kreisky, sei nicht durch eine Beteiligung am Wettrüsten zu gewährleisten, sondern durch den internationalen Auftritt als Vermittler und engagierter Akteur auf der diplomatischen Bühne. Entscheidend sei "nicht nur militärische Neutralität im Kriegsfall, sondern eine aktive Außenpolitik im Dienste der Friedenserhaltung", fasste SPÖ-Abgeordneter Karl Czernetz diese Haltung in einer Plenardebatte 1976 zusammen. Rathkolb spricht vom "Goldenen Zeitalter" der österreichischen Neutralitätspolitik, in der Österreich als Brückenbauer zwischen Ost und West aber auch als Vermittler im Nahen Osten hohes internationales Ansehen genoss.

Diese Politik wurde auch von der breiten Bevölkerung unterstützt, die eine sparsame Landesverteidigung präferierte. Ganz im Gegensatz zur Schweiz, setzte man nicht auf gut ausgestattete und hoch gerüstete Streitkräfte, sondern auf die Wahrung der territorialen Integrität mit einem Minimum an Defensivkräften. Von außen hingegen führte diese "sparsame" Verteidigungspolitik zum Vorwurf, Österreich sei ein sicherheitspolitischer "Trittbrettfahrer", der sich im Ernstfall auf den Schutzschirm der NATO verlasse. Ein Vorwurf, der mit Ende des Kalten Krieges immer häufiger auch im innenpolitischen Diskurs vorgebracht wurde.

Ende des Kalten Krieges: Sinnkrise und Avocado-Doktrin

Das Ende des Ost-West-Konflikts sowie der Zerfall des Warschauer Pakts und der Sowjetunion veränderten Anfang der 1990er die geopolitischen Rahmenbedingungen gravierend und läuteten eine neue Phase der österreichischen Sicherheitspolitik ein, die Eder unter dem Motto "Neuorientierung" zusammenfasst. Eine Dokumentation des ORF aus dem Jahr 1993 mit dem Titel "Die Zerreißprobe" fängt die Stimmung innerhalb des Heeres zu jener Zeit ein und berichtet von Resignation und Verunsicherung angesichts vieler ungelöster Fragen. Der damalige Bundessprecher der Grünen, Peter Pilz, spricht darin gar von einer "Sinn- und Existenzkrise" des Bundesheeres, da ihm "über Nacht" der Feind abhandengekommen sei. Thematisiert wurden ein stagnierendes Militärbudget, der Personalmangel aufgrund des seit Kurzem erleichterten Zugangs zum Zivildienst, die Möglichkeit eines Berufsheeres anstatt der Wehrpflicht sowie - natürlich - die Frage der Zeitgemäßheit der Neutralität. Denn mit dem Ende des Ost-West-Konflikts fiel auch der Bezugsrahmen weg, der für ihre Entstehung konstitutiv war.

Die Neutralität wurde jedoch nicht beendet, sondern gemäß der sogenannten "Avocado-Doktrin" (nach dem österreichischen Diplomaten Franz Cede) auf ihren harten Kern - Bündnis- und Stützpunktverzicht - reduziert. Bereits anlässlich des Zweiten Golfkriegs 1990/1991 ordnete sich Österreich zum ersten Mal in seiner Geschichte den Entscheidungen einer internationalen Organisation unter und gestattete den Transport von Kriegsmaterial für Polizeiaktionen der UNO, erklärt Historiker Wolfgang Müller in seinem Beitrag für den Sammelband "Österreichs Neutralität". Das Argument war nun, dass ein neutraler Staat sich seinen internationalen Verpflichtungen nicht entziehen konnte. Diese Entwicklung verstärkte sich mit der schrittweisen Integration in europäische und transatlantische Institutionen. Eine besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang haben auch die Zerfallskriege in Jugoslawien an Österreichs Grenze und ihre Folgen. Konsequenterweise beteiligte sich das Bundesheer beginnend mit 1996 an der Friedenssicherung in Bosnien und Herzegowina und dann in weiterer Folge seit 1999 im Kosovo, wie Johann Frank in seinem Beitrag über das Bundesheer im "Handbuch Außenpolitik Österreichs" ausführt.

Unter Verweis auf die "irische Klausel" beteiligte sich Österreich nach dem EU-Beitritt 1995 an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und deutete damit die Neutralität von einem defensiven in ein solidarisches Verständnis um, wie Eder ausführt. Er schreibt nunmehr von einem "post-neutralen Staat", der de jure immer noch neutral war, dessen militärische Sicherheit aber vollends in die europäischen Entwicklungen eingebettet wurde. Mit der Teilnahme Österreichs am NATO-Programm "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) wurde auch die Annäherung an transatlantische Strukturen forciert. Ein Beitritt zur NATO selbst wurde vor allem von der FPÖ unter Jörg Haider aber auch von der ÖVP vorangetrieben, wie etwa die Plenardebatte zu einem Dringlichen Antrag der Freiheitlichen auf eine raschen NATO-Beitritt illustriert. Der damalige Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, sprach in den Medien gar von einer "Neutralitätslüge", mit der aufgeräumt werden müsse. Doch die Koalition beider Parteien ab dem Jahr 2000 schob diese Frage vorerst an eine Expertenkommission ab, wie Rathkolb festhält. In der Bevölkerung blieb die Neutralität verschiedenen Studien zufolge weiterhin hoch im Kurs.

Vom Bedeutungsverlust zur Renaissance der militärischen Landesverteidigung

Etwa ab der Bundespräsidentschaftswahl 2004 ortet Politikwissenschaftler Martin Senn eine Stagnation in der Neutralitätsdebatte. Nach dem Wegfall des Systemfeindes geriet die territoriale Landesverteidigung zunehmend in den Hintergrund. Das Bundesheer fand neue Aufgabengebiete im Assistenzeinsatz an der Staatsgrenze und in internationalen Einsätzen, etwa bei der NATO-geführten Friedensmission in Bosnien und Herzegowina.

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verschob sich der sicherheitspolitische Fokus vom 1961 verabschiedeten Konzept der Umfassenden Landesverteidigung hin zu einem System der "umfassenden Sicherheitsvorsorge", wie Eder ausführt. Aufgrund neuer Risiken und Bedrohungen sollten potenzielle Gefahren schon im Vorfeld proaktiv verhindert oder bearbeitet werden, anstatt sich im Nachhinein mit den Konsequenzen dieser Entwicklungen auseinandersetzen zu müssen. Die Sicherheitsdoktrin von 2001 unterstrich die zunehmende Verschmelzung von äußerer und innerer Sicherheit. Das Innenministerium konnte sich sukzessive immer stärker als sicherheitspolitischer Akteur auf Kosten des Bundesheeres etablieren, so Eder. Konventionelle militärische Angriffe auf Österreich wurden explizit nicht mehr als wahrscheinliche Bedrohungsszenarien definiert.

Auch die allgemeine Wehrpflicht wurde nun immer öfter zur Disposition gestellt. Wiens damaliger Bürgermeister Michael Häupl gab den Anstoß zu einer Debatte über ihr Fortbestehen, die 2013 schließlich in der ersten und einzigen bundesweiten Volksbefragung der Zweiten Republik kulminierte. Während ÖVP und FPÖ mit der Bedeutung der Wehrpflicht für Katastrophenschutz, Neutralität und (über den Zivildienst) für das Sozialsystem argumentierten, sah die SPÖ ein "Massenheer" nicht geeignet, um die neuen verteidigungspolitischen Herausforderungen wie Terrorismus und Internetkriminalität zu bewältigen. Die Grünen begründeten ihre Ablehnung der Wehrpflicht mit der aus ihrer Sicht fehlenden Bedrohungslage. Bei einer Beteiligung von 52,4 % stimmten schließlich 59,7 % für die Beibehaltung, was auch ein parlamentarisches Nachspiel in Form eines FPÖ-Misstrauensantrags gegen SPÖ-Verteidigungsminister Norbert Darabos hatte.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine erledigten sich schließlich etwaige Diskussionen über den Sinn und Stellenwert der militärischen Landesverteidigung. Der konventionelle Krieg mitten in Europa führte nicht nur zu ihrer Renaissance, sondern fachte auch die Neutralitätsdebatte neu an. Während der Fortbestand der Neutralität nach wie vor breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens ist, bleibt ihre konkrete Auslegung ein umkämpftes Feld - zwischen dem Beharren auf der "Magna Charta" der Zweiten Republik und der Notwendigkeit, auf eine veränderte internationale Sicherheitslage zu reagieren.

Einen Wendepunkt markierte der Krieg auch hinsichtlich budgetärer Fragen: Erstmals seit Jahrzehnten herrscht über die Parteigrenzen hinweg Einigkeit darüber, dass das Bundesheer deutlich besser ausgestattet werden muss. Die jahrzehntelang dominierende Linie einer "sparsam" gehaltenen Verteidigung wich einem überparteilichen Konsens, die Verteidigungsfähigkeit Österreichs substanziell zu stärken - auch um die Neutralität glaubwürdig abzusichern. So bewegt sich Österreichs Sicherheitspolitik auch nach 70 Jahren weiter in jenem Spannungsfeld, das sie seit 1955 prägt: zwischen Tradition und Anpassung, zwischen Eigenständigkeit und internationaler Verflechtung, zwischen dem Anspruch auf Neutralität und der Realität machtorientierter Geopolitik. (Schluss) wit

HINWEISE: Fachdossiers, etwa zur Mitwirkung des Parlaments in der Sicherheitspolitik oder zur Neutralität, finden Sie im Webportal des Parlaments, ebenso wie Podcasts zu diesen Themen und Stenographische Protokolle zu allen Sitzungen von Nationalrat und Bundesrat.

Die Beiträge bzw. Bücher von Franz Eder, Oliver Rathkolb, Wolfgang Müller, Johann Frank und Martin Senn sowie andere Werke zur österreichischen Sicherheitspolitik finden Sie in der Parlamentsbibliothek.

Das Parlament beleuchtet 2025 drei Meilensteine der Demokratiegeschichte. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt 2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu-beitritt.


Rückfragen & Kontakt

Pressedienst der Parlamentsdirektion
Parlamentskorrespondenz
Tel. +43 1 40110/2272
pressedienst@parlament.gv.at
www.parlament.gv.at/Parlamentskorrespondenz

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NPA

Bei Facebook teilen
Bei X teilen
Bei LinkedIn teilen
Bei Xing teilen
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel