• 15.07.2025, 06:00:33
  • /
  • OTS0002

Monetarisierung statt Mobilisierung: Verschwörungstheorien auf Telegram werden zum Geschäftsmodell

Spendenaufrufe und Produktwerbung legten laut neuer Studie der Bundesstelle für Sektenfragen zu und übertrafen den Höchstwert politischer Handlungsaufrufe während der Pandemie

Wien (OTS) - 

In österreichischen Telegram-Netzwerken wird immer stärker versucht, mit Verschwörungstheorien Geld zu verdienen. Vor allem die reichweitenstärksten Verbreitungskanäle sind Teil zunehmend professionalisierter Vertriebsnetzwerke und bewerben ein breites Produktangebot – von Nahrungsergänzungsmitteln und Krisenvorsorgeartikeln bis zu politischem Merchandise. Das zeigt eine neue Studie der Bundesstelle für Sektenfragen, die auch auf die potenziell demokratiegefährdende Wirkung der eingesetzten Kommunikationsstrategien hinweist.

Die Untersuchung macht deutlich: Aus der spontanen Protestkommunikation während der COVID-19-Pandemie ist eine stabilisierte Gegenöffentlichkeit hervorgegangen. Einflussreiche Akteurinnen und Akteure nutzen ihre Reichweite vermehrt zur Einwerbung von Spenden sowie zur Vermarktung eines breiten Spektrums an Produkten und Dienstleistungen. „Die Kommunikation folgt einem selbstverstärkenden Kreislauf: Zur Absicherung ökonomischer Interessen werden fortlaufend neue Bedrohungsszenarien konstruiert, die gezielt Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen und wissenschaftlichen Erkenntnissen schüren“, erklärt Ulrike Schiesser, Geschäftsführerin der Bundesstelle für Sektenfragen.

Diese Verunsicherung legitimiert Spendenaufrufe, kommerzielle Angebote und exklusive Inhalte – und stützt ein Geschäftsmodell, das von den Krisenerzählungen lebt, die es selbst erzeugt. Die Ergebnisse der Bundesstelle verdeutlichen die Gefahr abgeschotteter Kommunikationsräume, in denen verschwörungstheoretische, systemfeindliche und esoterische Weltbilder kultiviert und von einzelnen „Big Playern“ gezielt monetarisiert werden.

Das Geschäft mit der Angst

Krisenzeiten wie die COVID-19-Pandemie, geopolitische Spannungen oder wirtschaftliche Unsicherheit wirken dabei als Katalysatoren. In Phasen kollektiver Verunsicherung steigt die Anfälligkeit für einfache Deutungsmuster, exklusive „Wahrheiten“ und vermeintlich alternative Lösungsangebote – eine Nachfrage, die gezielt adressiert und kommerziell verwertet wird. Studien aus dem deutschsprachigen Raum belegen hierfür bereits die zentrale Rolle des Instant-Messaging-Dienstes Telegram. Für Österreich fehlten bisher jedoch systematische Untersuchungen. Mit dem Fokus auf das „Geschäft mit der Angst“ in österreichischen Telegram-Netzwerken will die Bundesstelle für Sektenfragen daher zu mehr Aufklärung über ein bisher unerforschtes Feld beitragen und ihrem gesetzlichen Dokumentations- und Informationsauftrag nachkommen.

Verschwörungstheoretische Netzwerke weiterhin aktiv

Der vorliegende Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen bestätigt die anhaltend hohe Aktivität verschwörungstheoretischer Akteurinnen und Akteure in österreichischen Telegram-Netzwerken. Seit der Veröffentlichung des ersten Monitoring-Berichts ist die Zahl der veröffentlichten Nachrichten weiter angestiegen und überschritt im Sommer 2024 mit knapp 60.000 Beiträgen pro Monat erstmals den bisherigen Höchststand aus der Zeit zwischen dem allgemeinen Lockdown und dem Ende der COVID-19-Maßnahmen zum Jahreswechsel 2021/2022. Die Nachrichten im Netzwerk weisen dabei noch immer eine relativ stabile kumulative Reichweite von rund 3,5 Millionen Aufrufen pro Tag auf. Kanäle, die Verschwörungstheorien verbreiten, agieren weiterhin als zentrale Knotenpunkte in einem größeren Netzwerk und prägen den Diskurs maßgeblich.

Monetarisierung löst politische Mobilisierung sukzessive ab

Im Verlauf des Untersuchungszeitraums lässt sich dabei eine inhaltliche Verschiebung der Mobilisierungsstrategien in dem untersuchten Netzwerk beobachten: „Wie die Analyse zeigt, konnten einige Akteurinnen und Akteure während der Pandemie erhebliche Reichweiten aufbauen und nutzten diese nun verstärkt, um ihre Anhängerschaft für monetäre Zwecke anzusprechen“, stellt der Studienautor Felix Lippe fest. Bezeichnenderweise überstiegen die monetären Handlungsaufrufe zum Jahresbeginn 2024 mit knapp 2.300 Nachrichten pro Monat den Höchstwert, den politische Handlungsaufrufe je erreichen konnten, selbst zu Hochzeiten der COVID-19-Pandemie.

Professionalisierung der Spendenakquise

Wie die Analyse der monetären Aufrufe zeigt, stellen Spendenaufrufe die mit Abstand häufigste Form der Mobilisierung im untersuchten Netzwerk dar (31,5 % der Handlungsaufrufe). Reichweitenstarke Kanäle nutzen ihre zentrale Stellung, um regelmäßig zu finanziellen Zuwendungen aufzurufen – deutlich häufiger als zum Kauf von Produkten. Diese Aufrufe folgen zunehmend professionellen Mustern: Die Kommunikation ist oft standardisiert, mit fest integrierten Verlinkungen zu Bankkonten oder etablierten Zahlungsdienstleistern. Viele Spendenaufrufe vermitteln das Gefühl, durch einen Beitrag aktiv Teil eines kollektiven Widerstands gegen eine vermeintlich globale Verschwörung oder ein illegitimes System zu sein. Unterstützungsbitten werden häufig mit Verweisen auf „politische Repression“ und die Notwendigkeit für die Fortführung des politischen Aktivismus oder der alternativen Berichterstattung begründet.

Telegram als alternativer Marktplatz

Über Spendenaufrufe hinaus zeigt sich im untersuchten Netzwerk eine zunehmende Kommerzialisierung, bei der reichweitenstarke Kanäle häufig für die Bewerbung von Produkten als Einnahmequelle genutzt werden (16,2 % der Handlungsaufrufe). Im Zentrum stehen dabei insbesondere alternativmedizinische Präparate, Nahrungsergänzungsmittel, politisiertes Merchandise, Krisenvorsorgeartikel und verschwörungstheoretisch geprägte Literatur. Ergänzt wird dieses Feld durch Coachingformate und energetische Heilangebote. „Die Kommunikation folgt meist einem einheitlichen Muster: Über dramatisierte Bedrohungsszenarien werden konsumierbare ‚Lösungen‘ präsentiert, die zugleich identitätsstiftend wirken“, erklärt der Studienautor Philipp Pflegerl. Die Produktvermarktung ist eng in ideologische Erzählungen eingebettet, die verschwörungstheoretische, systemfeindliche und esoterische Weltbilder transportieren.

Breite Produktpalette bei gleichzeitiger Dominanz einzelner Vertriebsplattformen

Trotz der Vielfalt an Anbieterinnen und Anbietern zeigt sich in der Verbreitung kommerzieller Inhalte ein deutliches Konzentrationsmuster: Eine kleine Zahl reichweitenstarker Plattformen – insbesondere der Online-Shop des rechtsextremen „Alternativmediums“ AUF1 und des Kopp Verlags – fungieren als infrastrukturelle Knotenpunkte und prägen das Vertriebsökosystem maßgeblich. Diese Online-Shops bieten ein breites Produktsortiment an, das unterschiedliche Zielgruppen adressiert und von zahlreichen Kanälen regelmäßig verlinkt wird. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die zunehmende Anbindung an den kaufkräftigen Esoterik-Markt, der über verschwörungstheoretische Narrative erschlossen wird. Häufig erfolgt die Verbreitung im Rahmen von Affiliate-Programmen, bei denen die Betreiberinnen und Betreiber der Kanäle im Falle eines Verkaufs Provisionen oder Umsatzbeteiligungen erhalten.

Mobilisierung und Monetarisierung

Politische Handlungsaufrufe nehmen seit der Hochzeit des COVID-19-Protestgeschehens tendenziell ab. Trotz der zunehmenden Monetarisierung bleibt politische Mobilisierung jedoch ein konstitutives Element der Netzwerkaktivität. Die Spannbreite reicht von Demonstrations- und Wahlaufrufen (13,4 % bzw. 4,2 % sämtlicher Handlungsaufrufe) über Petitionen (4,8 %) bis hin zu Rekrutierungsversuchen (12,2 %). Einladungen zu Events (17,7 %) erfüllen eine doppelte Funktion: Einerseits ermöglichen sie politische Mobilisierung, andererseits die Generierung wirtschaftlicher Einnahmen. Häufig sind diese Inhalte mit polarisierenden Positionen verknüpft. Darüber hinaus lassen sich koordinierte, kanalübergreifende Mobilisierungsstrategien identifizieren, in denen verschwörungstheoretische Narrative mit einem grundsätzlichen Widerstandsdiskurs gegen demokratische Institutionen verknüpft werden. Die Analyse zeigt, dass sich die reichweitenstärksten Kanäle, die politisch mobilisieren, in vielen Fällen mit jenen überschneiden, die zugleich auf monetäre Einnahmen ausgerichtet sind.

Schlussfolgerung

Verschwörungstheorien greifen reale Unsicherheiten auf und verwandeln sie in ideologische wie ökonomische Geschäftsmodelle – mit teils erheblichen sozialen und politischen Folgewirkungen. Die Ergebnisse des Berichts zeigen, wer die Wirkmechanismen von Verschwörungstheorien verstehen will, muss die ökonomische Dimension mitdenken. Verschwörungstheoretische Narrative werden von manchen Akteurinnen und Akteuren gezielt genutzt, um sich zu finanzieren und angstfördernde sowie polarisierende Inhalte niederschwellig zu verbreiten. Um dem wirksam zu begegnen, braucht es regulatorische Kontrolle, Transparenzpflichten für digitale Plattformen sowie gezielte rechtliche Prüfungen – etwa bei potenziell gesundheitsgefährdenden Produktverkäufen und falschen Heilsversprechen. Ergänzend braucht es kontinuierliches Online-Monitoring, damit Entwicklungen frühzeitig erkannt und eingeordnet werden können. Langfristig sind politische Bildung, Medienkompetenz und Resilienzförderung zentrale Voraussetzungen, um insbesondere vulnerable Gruppen vor manipulativen Angeboten zu schützen.

Methoden

Die Analyse basiert auf einem Korpus von 332 öffentlich zugänglichen österreichischen Telegram-Kanälen, erhoben über die Telegram API im Zeitraum von Oktober 2017 bis Oktober 2024. Ausgangspunkt waren die 30 reichweitenstärksten Kanäle, die Verschwörungstheorien verbreiten, ergänzt um alle öffentlichen Kanäle, die deren Inhalte regelmäßig weiterleiten und damit deren „Verbreitungsnetzwerk“ darstellen. Insgesamt wurden rund 2,3 Millionen Nachrichten erfasst. Private Chats, geschlossene Gruppen und Nutzerkommentare blieben explizit unberücksichtigt. Für die Auswertung kam eine methodische Kombination aus quantitativen und qualitativen Verfahren zum Einsatz. Mittels speziell trainierter KI-Sprachmodelle wurden Nachrichten automatisiert sieben induktiv identifizierten Handlungsaufrufen zugeordnet. Etwa 6 % der Beiträge wurden als handlungsauffordernd klassifiziert und im Anschluss vertiefend qualitativ analysiert – mit Fokus auf Narrative, Argumentationsmuster und Kommunikationsstrategien. Neben den quantitativ durchgeführten Analysemethoden, die sich auf eine Kombination aus automatisierten und qualitativen Techniken stützen, war die händische Überprüfung und Bewertung der Kanäle und Nachrichten von zentraler Bedeutung.

„Meinungsfreiheit, Versammlungsrecht und politische Teilhabe sind Grundpfeiler der Demokratie – ebenso ist es grundsätzlich zulässig, durch Spenden oder Produktverkäufe finanzielle Mittel für politische Projekte zu generieren. Problematisch wird es dort, wo diese Mittel gezielt eingesetzt werden, um demokratische Institutionen zu delegitimieren, Misstrauen zu schüren und von Verschwörungstheorien geprägte Gegenöffentlichkeiten zu etablieren.“

Ulrike Schiesser, Psychologin und Psychotherapeutin, Geschäftsführerin der Bundesstelle für Sektenfragen

„Wie unser Bericht zeigt, gibt es einen kleinen Kern reichweitenstarker Kanäle, die Verschwörungstheorien gezielt als Geschäftsmodell nutzen. Bereits während der COVID-19-Pandemie führten besonders aufdringliche oder intransparente Spendenaufrufe allerdings zu Irritationen und Kritik innerhalb von Teilen der Anhängerschaft. Ob die zunehmende Monetarisierung einen nachhaltigen Glaubwürdigkeitsverlust für zentrale Akteurinnen und Akteure ergibt, bleibt abzuwarten.“

Felix Lippe, Psychologe, Studienautor und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesstelle für Sektenfragen

„Wir sehen auch mit Blick auf Österreich, dass das Geschäft mit der Angst zunehmend professionell betrieben wird. Zentrale Akteurinnen und Akteure wie das rechtsextreme ‚Alternativmedium‘ AUF1 oder der seit vielen Jahren etablierte Kopp Verlag vermarkten über ihre Vertriebsnetzwerke ein breites Produktsortiment – von Nahrungsergänzungsmitteln und Krisenvorsorgeartikeln über verschwörungstheoretische Literatur bis hin zu esoterischen Produkten und politischem Merchandise.“

Philipp Pflegerl, Politikwissenschaftler, Studienautor und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesstelle für Sektenfragen

Der Monitoring-Report steht auf www.bundesstelle-sektenfragen.at/veroeffentlichungen/ zum Download zur Verfügung.

Rückfragen & Kontakt

Mag.a Ulrike Schiesser

Bundesstelle für Sektenfragen

Wollzeile 12/2/19, 1010 Wien

+4315130460

bundesstelle@sektenfragen.at

www.bundesstelle-sektenfragen.at

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NEF

Bei Facebook teilen
Bei X teilen
Bei LinkedIn teilen
Bei Xing teilen
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel