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80 70 30: Dreiste Papierdiebe, verständnislose Vorgesetzte, unwillige Handwerker und andere Sorgen einer Bibliothekarin 1945

Hilda Rothe und ihr "unerschrockener Einsatz" für die Rettung der Parlamentsbibliothek

Wien (PK) - 

Das Parlamentsgebäude war zu Ende des Zweiten Weltkriegs durch Bombentreffer und Brandlegungen schwer beschädigt. Die Bibliothek des Hauses, die Seite Reichsratsstraße im Erdgeschoss untergebracht war, hatte die Kriegsjahre zwar wider Erwarten überdauert. Die Bauschäden führten aber dazu, dass die Bücher direkten Bedrohungen ausgesetzt waren. Der Parlamentsmitarbeiterin Hilda Rothe, die sich bereits während der NS-Zeit hartnäckig für den Fortbestand der Bibliothek eingesetzt hatte, ist es hauptsächlich zu verdanken, dass die Bibliothek den besonders schwierigen Sommer 1945 ohne größere Schäden überstand.

Ungebetene "Besucher" in der Bibliothek

Ein Schreiben der Bibliothekarin vom Mai 1946 gibt einen kleinen Einblick in die Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert war. So seien etwa immer wieder aufgrund der fehlenden baulichen Sicherungsmaßnahmen "Angehörige einer Besatzungsarmee nach Belieben durch die Fenster in die Bibliothek eingestiegen, hatten in den Büchern gestöbert, sie verstellt, Bündel von Seiten herausgerissen oder sogar - weit gefährlicher - angezündete Bücher in die Stellagen wieder eingestellt". Rothes Brief liefert keine weitere Erklärung über diese Akte des Vandalismus. Eine naheliegende Vermutung ist, dass es sich um sowjetische Soldaten handelte, die auf der Suche nach Papier für ihre selbstgedrehten Zigaretten waren. Rothe hielt sich jedenfalls zugute, dass sie mit ihrer Anwesenheit diese Vorgänge unterbinden habe können.

Tatsächlich war Rothe rund um die Uhr an ihrem Arbeitsplatz anwesend: Die Gebäudeverwaltung hatte es nämlich im Sommer 1945 als "zweckmäßig" befunden, der Bibliothekarin ein Zimmer in der Parlamentsbibliothek als Wohnung zuzuweisen. So konnte Rothe immer ein Auge auf die Bücher halten, und man löste auch die Wohnungsfrage der Bibliothekarin, deren eigene Wohnung von der US-Militärbehörde beschlagnahmt worden war. Rothe zog mit ihrer 77-jährigen Mutter und ihrer Schwester in ein Dienstzimmer der Bibliothek und blieb dort bis 1950. Danach übersiedelte sie in andere Räume im Parterre des Parlamentsgebäudes, nunmehr ohne Mutter und Schwester, die in der Zwischenzeit verstorben waren.

Eine bibliothekarische Karriere

Wer war nun diese Bibliothekarin, die sich mit "unerschrockenem Einsatz", wie es in einer Würdigung 1956 hieß, den respektlosen Papierdieben entgegenstellte? Im Grunde wissen wir nur recht wenig über sie. Hilda Rothe wurde am 30. April 1893 in Wien geboren. 1917 erwarb sie ein Doktorat der Philosophie und legte eine Lehramtsprüfung in Englisch ab. 1920 begann sie, in der Parlamentsbibliothek zu arbeiten. Sie war damit die einzige Frau mit Hochschulabschluss im Inneren Dienst des Parlaments.

In den weiteren Jahrzehnten machte Rothe alle Höhen und Tiefen dieser wichtigen Fachbibliothek mit, deren Anfänge sich bis in das Jahr 1869 zurückverfolgen lassen. Bis zu ihrer Pensionierung 1956 durchlief sie alle Beförderungsstufen, bis hin zur "Oberstaatsbibliothekarin" im Jahr 1954. Nur der Sprung in eine formale Führungsposition blieb ihr vorenthalten. Zwar wurde Rothe im Jänner 1946 eher beiläufig als "provisorische Leiterin der Parlaments-Bibliothek" bezeichnet. Tatsächlicher Leiter wurde aber kurz darauf Gustav Blenk. 1956 wurde Rothe "krankheitsbedingt" pensioniert. Am 18. Februar 1967 starb sie in Wien.

Eine Bibliothek übersteht alle politischen Veränderungen

Bereits zu Zeiten der Monarchie hatte die Parlamentsbibliothek sich aufgrund der guten Arbeit der Bibliothekar:innen - zu denen unter anderem Karl Renner gehörte - hohes Ansehen erworben. Bemerkenswerterweise konnten die Bibliotheksmitarbeiter:innen ihre Arbeit mehr oder weniger ungestört sogar nach dem Ende des Parlamentarismus 1933 weiterführen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme blieb die Bibliothek im nunmehrigen "Gauhaus" weiter bestehen, ohne der Wiener NSDAP unterstellt zu sein, die ins Haus am Ring eingezogen war. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter:innen führten die Arbeit weiter, Bibliotheksleiter Richard Fuchs und die Bibliothekarin Hilde Rothe. Neue Bücher wurden sogar weiterhin mit einem Stempel "Parlamentsbibliothek" versehen.

Die NS-Gauleitung stellte verschiedene Überlegungen an, was mit der Bibliothek weiter geschehen sollte. Eine Angliederung an andere Bibliotheken, aber auch ihre gänzliche Auflösung und die Aufteilung der Bücher an andere Bibliotheken standen im Raum. Im März 1942 verlor schließlich die Bibliothek im Parlamentsgebäude ihre organisatorische Eigenständigkeit. Sie wurde der "Administrativen Bibliothek" des ehemaligen Bundeskanzleramts untergeordnet. Aus ihnen sollte in weiterer Folge die "Verwaltungsbibliothek in Wien" gebildet werden.

Diese Pläne wurden zwar nie verwirklicht, aber immer wieder fragten andere Institutionen an, ob man ihnen nicht Bücher oder wertvolle historische Dokumente der Parlamentsbibliothek "überlassen" könne. Aus dem Schriftverkehr, den Rothe mit verschiedenen Behörden führte, ist zu erkennen, wie die Bibliothekarin sich solchen Begehrlichkeiten widersetzte und versuchte, Entscheidungen zumindest zu verzögern. Inwieweit man dabei tatsächlich von einem "passiven Widerstand" gegenüber dem NS-Regime sprechen kann, muss offen bleiben, da wir über Rothes Motivation zu wenig wissen. Unbestritten bleibt, dass sie sich mit großer Hartnäckigkeit für "ihre" Bibliothek einsetzte und sie damit einen wesentlichen Anteil am Fortbestand dieser Institution hatte.

Die Auflösung der Bibliothek war mit fortschreitendem Kriegsverlauf zwar kein Thema mehr. Das Kriegsende im Frühjahr 1945 brachte aber neue Herausforderungen mit sich. Eine Meldung der "Parlamentskorrespondenz" vom 15. November 1956 erinnert daran mit dem Satz: "Besondere Verdienste hat [Rothe] sich in den Umbruchstagen des Jahres 1945 erworben, als sie durch ihr pflichtbewusstes Verhalten massgebend [sic!] an der Erhaltung des Bücherbestandes der Bibliothek beteiligt war".

Neben der erwähnten Notwendigkeit, die Bibliothek vor Vandalismus zu schützen, war eine der Herausforderungen des Jahres 1945 die Rückgewinnung der institutionellen Selbständigkeit. Nach wie vor unterstand die Parlamentsbibliothek der "Administrativen Bibliothek", die nun wieder dem Bundeskanzleramt zugeordnet war. Bekannt ist etwa, dass noch nach Kriegsende der Leiter der Administrativen Bibliothek seine Ansprüche geltend machen wollte und Bücher aus der Parlamentsbibliothek abtransportieren ließ. Rothe intervenierte erfolgreich für die Rückgabe der Bücher. In weiterer Folge wurde die Bibliothek wieder vom Bundeskanzleramt abgetrennt, ihre Beschäftigten wurden dem Unterrichtsministerium unterstellt. Erst 1971 wurden die Bibliotheksmitarbeiter:innen dienstrechtlich der Kanzlei des Nationalratspräsidenten zugeordnet.

Winter 1945/1946: Die Bibliothek ist offen - und ungeheizt

Unter welchen Bedingungen im Winter nach Kriegsende gearbeitet wurde, beschreibt Rothe in einem Brief im Jänner 1946. An allen Ecken und Enden wurde gespart und für die Arbeitsbedingungen der Bibliothekarin gab es wenig Verständnis. So habe man ihr bei Einbruch der kalten Jahreszeit die Verwendung eines der elektrischen Öfen, die andere Bedienstete des Hauses sich gönnten, mit Hinweise auf die drohende Überlastung der Elektrik verweigert. Kein Wunder also, dass im Katalogsaal der Parlamentsbibliothek Temperaturen "von ungefähr Null Grad" herrschten. Unter diesen unzumutbaren Umständen habe sie sich bereits schwere Erfrierungen an den Fingern zugezogen. Sie verliere daher gerade mehrere Fingernägel, beschwerte sich Rothe.

Auch die Herstellung der Beleuchtung ließ auf sich warten. Um überhaupt Licht an ihrem Arbeitsplatz zu haben, sei sie gezwungen gewesen, auch in der kalten Jahreszeit die Fensterläden offen zu lassen, obwohl die Fenster der Bibliothek noch unverglast waren. Rothe berichtet von einer eindeutigen Aussage des Haustischlers auf ihre Bitte um eine Behebung dieser widrigen Zustände: "Die Bibliothek bekommt nur dann Fenster, wenn überhaupt Glas übrigbleibt!". Erst in der zweiten Dezemberhälfte 1945 wurden zumindest die Außenfenster mit Fensterscheiben versehen.

Bald nach der Wiederaufnahme des parlamentarischen Betriebs am 19. Dezember 1945 hatte das Parlament auch wieder eine funktionierende Bibliothek. Für die dafür erbrachten Opfer und ihren "unerschrockenen Einsatz" erhielt "Frau Oberstaatsbibliothekar i. R. Dr. phil. Hilda Rothe" am 15. November 1956 das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, das ihr vom damaligen Nationalratspräsidenten Felix Hurdes überreicht wurde. (Schluss) sox

HINWEISE: Weitere Informationen zur Parlamentsbibliothek, zur Bibliothekarin Hilda Rothe sowie Fotos zu ihrer Geschichte finden Sie auf der Website des Parlaments.

Das Parlament beleuchtet 2025 drei Meilensteine der Demokratiegeschichte. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt 2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu-beitritt.


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