• 04.05.2023, 11:00:03
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  • OTS0099

Brutale Details zu Vergewaltigung verletzen Opferschutz

Wien (OTS) - 

Nach Auffassung des Senats 1 verstößt der Artikel „Die tödliche Vergewaltigung einer 20-Jährigen“, erschienen am 06.01.2023 auf „derstandard.at“, gegen die Punkte 5 (Persönlichkeitsschutz) und 6 (Intimsphäre) des Ehrenkodex für die österreichische Presse.

Im Beitrag wird über eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wien berichtet, die dem STANDARD in voller Länge vorliege und einen Einblick in eine schockierende Tat gewähre: Zwei österreichische Staatsbürger sollen eine junge Frau missbraucht haben, bis diese schließlich an ihren Verletzungen verstorben sei. Anschließend wurden im Artikel die Vergewaltigung und auch die daraus resultierenden Verletzungen, die zum Tod des Opfers führten, in allen Details beschrieben. Am Ende des Artikels heißt es, dass beiden Männern eine Persönlichkeitsstörung attestiert werde.

Mehrere Leserinnen und Leser kritisierten die detaillierten Schilderungen im Artikel als verstörend, außerdem sahen sie darin einen Eingriff in die Intimsphäre des Opfers.

Die Medieninhaberin nahm am Verfahren teil. In einer schriftlichen Stellungnahme hielt der Chefredakteur des Mediums fest, dass die Beschwerden wegen des Artikels berechtigt seien. Man habe die geschilderten Details zur Vergewaltigung umgehend entfernt, dies sei auch in einer Infobox am Ende des Artikels transparent gemacht worden. Zudem habe man die Veröffentlichung zusätzlich in einer Fehlerkolumne des Mediums reflektiert und darin auch über die Einleitung des Verfahrens vor dem Presserat berichtet, so der Chefredakteur.

In der mündlichen Verhandlung führte der Autor des Artikels ergänzend aus, dass über den Vorfall trotz seiner Brutalität bis dahin wenig berichtet worden sei, weshalb an der Schilderung der Tat ein öffentliches Interesse bestanden habe. Obwohl man sich als Journalist bei derartigen Kriminalfällen gewissermaßen in einem Graubereich bewege, habe man wohl zu detailliert berichtet und wolle in Zukunft achtsamer sein. Ansonsten wiederholten der Autor und die Rechtsanwältin des Mediums im Wesentlichen nochmals die Argumente aus der schriftlichen Stellungnahme.

Der Senat weist zunächst darauf hin, dass das Thema „Gewalt gegen Frauen“ und Berichte über schwere Straftaten in diesem Bereich für die Öffentlichkeit relevant sind; Medien können bei diesem heiklen Thema einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung leisten. Bei Berichten über konkrete Gewalttaten ist allerdings stets auf die Würde und Intimsphäre der Opfer zu achten.
Das Leid, das die betroffenen Frauen und ihre Angehörigen erfahren, darf durch die Berichterstattung nicht vergrößert werden, etwa durch die Bekanntgabe grausamer oder intimer Details (vgl. Punkt 5.4 des Ehrenkodex für die österreichische Presse).

Im vorliegenden Fall war das betroffene Opfer nach Auffassung des Senats aufgrund der im Artikel geschilderten Gesamtumstände für einen beschränkten Personenkreis identifizierbar. Es werden etwa das Alter des Opfers und weitere persönliche Details zu den mutmaßlichen Tätern genannt. Da es im vorliegenden Fall um die Menschenwürde des verstorbenen Opfers geht, zieht der Senat keinen strengen Maßstab an die Identifizierbarkeit heran: Bei besonders drastischen und herausragenden Ereignissen – z.B. bei grausamen Tötungen oder schweren Unfällen – kann das unmittelbare Umfeld des Opfers im Normalfall das Ereignis dem Opfer zuordnen, so auch im vorliegenden Fall. 

Im Beitrag wurde die vorgeworfene Tat in all ihren grausamen Einzelheiten wiedergegeben; die Schilderungen zeigen genau, wie die Vergewaltigung und die Tötung des Opfers abgelaufen sind; der Senat bewertet die darin vermittelte Brutalität gegenüber der Frau als verstörend und erschütternd. Dabei spielt es auch keine wesentliche Rolle, dass die Details zum Tathergang in einer Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ausgeführt wurden. Dieser Umstand befreit die Redaktion nicht von ihrer Verpflichtung zu prüfen, ob die Veröffentlichung der Details die Persönlichkeitssphäre des Opfers verletzen könnte, insbesondere wenn es um schwerwiegende Sexualstraftaten geht. Die Gerichtsöffentlichkeit ist mit der Medienöffentlichkeit nicht gleichzusetzen.

Im Sinne der bisherigen Entscheidungspraxis des Presserats verletzen die detaillierten Schilderungen zum Ablauf der sexuellen Gewalttat die Würde und Intimsphäre des Opfers – dies unabhängig davon, ob das Opfer zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits verstorben war (Punkt 5 und Punkt 6 des Ehrenkodex). Zudem kann die genaue Schilderung einer Vergewaltigung in den Medien auch zu einer neuerlichen Belastung der Familienangehörigen des Opfers führen, weshalb auch auf die Persönlichkeitssphäre der Angehörigen nicht ausreichend Rücksicht genommen wurde. Schließlich weist der Senat auch darauf hin, dass Onlinebeiträge auch Jugendlichen zugänglich sind; der Schutz dieser Jugendlichen sollte von den Medienverantwortlichen ebenfalls mitberücksichtigt werden.

Der Senat wertet es als positiv, dass der Artikel im Nachhinein angepasst und die grausamen Details zur Tat entfernt wurden; weiters begrüßt der Senat den Hinweis unterhalb der aktuellen Version des Artikels, dass dieser geändert worden sei. Der Autor erläuterte seinen Fehler auch in den sozialen Medien und zeigte sich ebenso in der mündlichen Verhandlung vor dem Presserat einsichtig. Der Chefredakteur hat den Fall redaktionsintern umfassend aufgearbeitet. Insgesamt bewertet der Senat das Verhalten des Mediums nach der Veröffentlichung als vorbildlich (vgl. dazu Punkt 2.4 des Ehrenkodex). Die Schwere des Eingriffs in den Persönlichkeitsschutz des Opfers erlaubt es dem Senat im vorliegenden Fall jedoch nicht, von einem Verstoß gegen den Ehrenkodex abzusehen.  

SELBSTÄNDIGES VERFAHREN AUFGRUND VON MITTEILUNGEN MEHRERER LESERINNEN UND LESER 

Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der drei Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig.

Im vorliegenden Fall führte der Senat 1 des Presserats aufgrund von Mitteilungen mehrerer Leserinnen und Leser ein Verfahren durch (selbständiges Verfahren aufgrund von Mitteilungen). In diesem Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht. Die Medieninhaberin von „derstandard.at“ hat von der Möglichkeit, an dem Verfahren teilzunehmen, Gebrauch gemacht. 

Die Medieninhaberin der Tageszeitung „DER STANDARD“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.

Rückfragen & Kontakt

Tessa Prager, Sprecherin des Senats 1, Tel.: +43 - 1 - 23 699 84 - 11

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