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TIROLER TAGESZEITUNG "Leitartikel" Ausgabe vom Dienstag, 31. Jänner 2023, von Wolfgang Sablatnig: "Das Long Covid der Politik"

Innsbruck, Wien (OTS) - Wenn das „Miteinander“ hohl klingt: Die Niederösterreich-Wahl ist ein Signal dafür, dass die etablierten Parteien den Anschluss an viele Menschen verloren haben. Schöne Worte genügen nicht, um Vertrauen wiederzugewinnen.



Die Menschen gehen zu denen, die einfache Antworten anbieten“: So analysierte ÖVP-Chef Bundeskanzler Karl Nehammer die dramatischen Verluste seiner Partei bei der Landtagswahl in Niederösterreich, Verluste vor allem in Richtung Freiheitliche. Es war nicht ganz klar, ob Nehammer diese Aussage selbstkritisch verstanden haben will. Oder ratlos, weil ihm selbst keine einfachen Antworten einfallen. Oder als Kritik in Richtung der FPÖ und deren Chef Herbert Kickl, die es sich eben mit einfachen Antworten leicht machten. Oder gar als Kritik in Richtung der Wählerinnen und Wähler, die sich von den einfachen Antworten fangen lassen.
Egal, wie er es gemeint hat: Wenn die türkise Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner nach den herben Verlusten davon spricht, jetzt wieder allen die Hand hinzustrecken, klingt das für viele wie Hohn. Sie wollen die Hand gar nicht mehr annehmen. Viele sahen und sehen sich vom Miteinander ausgeschlossen. Studien zeigen: Das Vertrauen in die gewählten Institutionen sinkt.
Diese Abkehr sitzt tief. Sie spielt sich nicht nur im Kopf ab, sondern kommt aus dem Bauch. Corona, Lockdowns und Impfzwang haben sich tiefer eingegraben, als es etablierte Parteien wahrhaben wollten. Der großen Zustimmung zur Anti-Covid-Politik folgte ein umso radikalerer Absturz, als viele Menschen diese Maßnahmen nicht mehr verstanden – und verständliche Erklärungen ausblieben. So viel Selbstkritik muss sein: An dieser Stelle trifft das Versagen auch uns, die etablierten Medien.
Bei den Sanktionen gegen Russland wiederholte sich das Spiel. Übrig bleibt, dass das Leben teurer wird, weil wir – also Österreich – die ferne Ukraine im Krieg unterstützen. Scheinbare objektive Plattformen im Internet, als Nachrichten getarnt, befeuern diese Ansichten, ohne Zusammenhänge zu erklären. Meinungsbildung läuft eben auch unterhalb der üblichen Wahrnehmungsschwelle. Ein Beleg dafür sind Volksbegehren, die scheinbar aus dem Nichts Hunderttausende Unterstützer finden.
„Die Menschen gehen zu denen, die einfache Antworten anbieten.“ Diesen Menschen kann man das nur bedingt zum Vorwurf machen. Vielmehr muss sich die etablierte Politik fragen, warum sie „den Menschen“ nicht ernsthaft zuhört und nicht erklärt, warum die einfachen Antworten nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Emotionen und Gefühlen lässt sich mit formelhaften Beschwörungen und immer gleichen Worthülsen nicht begegnen.
Die Hand zum Miteinander zu reichen, kann am Ende dieses mühsamen Prozesses stehen. Nicht am Beginn.

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