Nach Ansicht des Senats 1 verstößt der Artikel „Ehefrau durch Stiche in den Kopf getötet“, erschienen in der Tageszeitung „Österreich“ vom 26.08.2022, gegen Punkt 5 des Ehrenkodex für die österreichische Presse (Persönlichkeitsschutz).
Im oben genannten Artikel wird eingangs festgehalten, dass XXX aus AAA seine Frau YYY im Ehebett ermordet haben soll (Anmerkung: das Alter des mutmaßlichen Täters und des Opfers wird genannt); das Motiv liege noch im Dunkeln. Im Beitrag werden einige grausame Details zum Tathergang wiedergegeben; darin finden sich Einzelheiten zur Tötung, weiters wird auch der Leichnam der Frau beschrieben. Schließlich wird im Artikel der Straßenname inklusive der Hausnummer des Einfamilienhauses als Tatort genannt.
Eine Leserin wandte sich an den Presserat und kritisierte die Nennung der Adresse im Artikel. Die Medieninhaberin nahm am Verfahren vor dem Presserat nicht teil.
Der Senat hält zunächst fest, dass das Thema „Gewalt gegen Frauen“ (bzw. Femizide) grundsätzlich für die Öffentlichkeit relevant ist und Medien bei dem sensiblen Thema einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung leisten können. Bei Berichten über konkrete Femizide ist allerdings stets auf den Persönlichkeitsschutz der Opfer und ihrer Angehörigen zu achten. Das Leid, das die betroffenen Frauen und ihre nahen Angehörigen erfahren, darf durch die Berichterstattung nicht vergrößert werden.
Im vorliegenden Fall sind die Betroffenen für einen größeren Personenkreis identifizierbar. Das Alter, der Vorname und der erste Buchstabe des Nachnamens des Opfers werden im Artikel angeführt. Für die Identifizierbarkeit spricht aber auch die Veröffentlichung der genauen Wohnadresse (bzw. des Tatorts); überdies wurde ein Foto vom Einfamilienhaus, das zum Teil von einem Einsatzfahrzeug verdeckt wird, beigefügt. Die Senate des Presserats haben bereits mehrmals festgehalten, dass die Bekanntgabe des konkreten Wohnorts eines Opfers dazu geeignet ist, in dessen (postmortalen) Persönlichkeitsschutz einzugreifen, zumal die genaue Wohnadresse für die Leserinnen und Leser nicht relevant ist.
Hinzu kommt, dass im oben genannten Beitrag auch einige grausame Details zum Tathergang wiedergegeben werden. Nach der Entscheidungspraxis des Presserats kann die Bekanntgabe brutaler Details zum Tathergang einer Tötung dazu geeignet sein, in den postmortalen Persönlichkeitsschutz des Opfers einzugreifen (Punkt 5.1 des Ehrenkodex für die österreichische Presse).
Nach Auffassung des Senats hätte die Redaktion allein schon aufgrund der Brutalität der Tat in besonderem Ausmaß Rücksicht auf die Anonymitätsinteressen des Opfers nehmen müssen (siehe dazu auch Punkt 5.4 des Ehrenkodex). Im Ergebnis war die Veröffentlichung der genauen Adresse nicht erforderlich, um dem Informationsbedürfnis der Allgemeinheit Genüge zu tun. Die identifizierende Berichterstattung ist zudem geeignet, die Trauerarbeit der Hinterbliebenen zu beeinträchtigen. Es liegt daher ein Verstoß gegen Punkt 5 des Ehrenkodex vor (Persönlichkeitsschutz). Die Medieninhaberin der Tageszeitung „Österreich“ wird aufgefordert, über den Ethikverstoß freiwillig zu berichten.
SELBSTÄNDIGES VERFAHREN AUFGRUND EINER MITTEILUNG EINER LESERIN
Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig.
Im vorliegenden Fall führte der Senat 1 des Presserats aufgrund einer Mitteilung einer Leserin ein Verfahren durch (selbständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung). In diesem Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht.
Die Medieninhaberin der Tageszeitung „Österreich“ hat von der Möglichkeit, an dem Verfahren teilzunehmen, keinen Gebrauch gemacht.
Die Medieninhaberin der Tageszeitung „Österreich“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.
Rückfragen & Kontakt
Tessa Prager, Sprecherin des Senats 1, Tel.: +43 - 1 - 23 699 84 - 11
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