• 16.12.2022, 10:04:48
  • /
  • OTS0060

Österreichische Nationalbibliothek erwirbt literarischen Nachlass von Thomas Bernhard

Thomas Bernhard: "Alte Meister" Erste Seite des
Typoskripts mit Korrekturen

Wien (OTS) - Nach jahrelangen Bemühungen ist es der Österreichischen
Nationalbibliothek mit Unterstützung des BMKOES gelungen, einen der
bedeutendsten deutschsprachigen Nachlässe des 20. Jahrhunderts zu
erwerben. Die weltweite Rezeption der Werke Thomas Bernhards und die
Zahl der Inszenierungen in vielen Ländern unterstreichen die Wirkung
dieses Nachlasses: Einerseits aufgrund der Vollständigkeit und
Reichhaltigkeit der Materialien, andererseits durch die literarische,
philosophische und politische Dimension des Werks.

Der Nachlass
Thomas Bernhards Nachlass ist nahezu vollständig überliefert, er
deckt die gesamte literarische Produktion ab und liefert damit
Einsicht in einen Schreibprozess, der über Jahrzehnte kaum je ins
Stocken geriet. Zu diesem Ganzen gehören die vielen Teile, die im
Nachlass überlieferten Fragmente und Entwürfe. Somit bildet dieser
Bestand eine unverzichtbare Materialbasis, aus der der Zusammenhang
zwischen Leben und Werk, von Bernhards Schreibanfängen bis zu seinem
Tod, deutlich wird.

„Ich freue mich, dass der umfangreiche schriftstellerische Nachlass
Thomas Bernhards, der auch die Schriften und Briefe seines
Großvaters, Johannes Freumbichler, umfasst, an die Österreichische
Nationalbibliothek geht“, so Kunst- und Kulturstaatssekretärin Mag.
Andrea Mayer. „Großer Dank gilt dem Verhandlungsteam und Dr. Peter
Fabjan, der das Erbe seines Bruders mehr als drei Jahrzehnte lang
professionell und mit großer Umsicht betreut und wesentlich zur
internationalen Wirkung dieses einzigartigen Autors beigetragen hat.
Der Erwerb des Nachlasses ist auch ein Auftrag: nämlich das Werk
Bernhards in seiner Entstehung zu erforschen, immer wieder aufs Neue
auf seine Aktualität hin zu befragen und in Ausstellungen,
Sonderschauen, Lesungen, Diskussionen und anderen Formaten dem
literaturinteressierten Publikum zu präsentieren. Und es gibt keinen
besseren Ort dafür als die Österreichische Nationalbibliothek mit
ihrem Literaturarchiv im Michaelertrakt der Hofburg und dem
Literaturmuseum in der Johannesgasse“.

Die Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Dr.
Johanna Rachinger, betont: „Thomas Bernhards Werk ist einzigartig in
der deutschsprachigen Literatur nach 1945, es ist Teil der
Weltliteratur. Für mich ist dieser Nachlass einer der bedeutendsten
Zugänge in der Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek.
Wir sind uns der Verantwortung bewusst, diesen Bestand langfristig
für die Forschung und die Allgemeinheit zu sichern.“

Der Nachlass umfasst sämtliche veröffentlichten und
unveröffentlichten Werke sowie alle überlieferten Korrespondenzen.
Allein an unveröffentlichten Texten sind über 150 Titel verzeichnet,
hinzu kommen Notizen und autobiografische Aufzeichnungen. Der
Werk-Bestand macht knapp 30.000 Blätter mit Handschriften,
handschriftlich korrigierten Typoskripten und Fahnenkorrekturen aus.
Die Korrespondenz setzt sich aus der Familienkorrespondenz, der
Verlagskorrespondenz, sowie aus Briefen von Einzelpersonen und
Institutionen zusammen. Die umfangreichen Korrespondenzen mit
Bernhards Verlagen, hier vor allem mit Siegfried Unseld und dem
Suhrkamp Verlag, aber auch mit dem Residenz-Verlag, lassen die
Entstehung und die Rezeption der Bücher und Theatertexte
nachzeichnen. Bernhards Verhältnis zu seinen Verlegern ist ebenso
aufschluss- wie konfliktreich.

In den insgesamt 15 Archivboxen mit Korrespondenzen finden sich
Briefe von u.a. Ingeborg Bachmann, Werner Bergengruen, Heinrich Böll,
Elias Canetti, Peter Handke, Marlen Haushofer, Hans Werner Henze,
Bernhard Minetti, Claus Peymann, Hilde Spiel, Siegfried Unseld oder
Alice und Carl Zuckmayer. Die Korrespondenz mit Thomas Bernhards
Lebensmenschen Hedwig Stavianicek nimmt was Laufzeit, Umfang und
Inhalt anbelangt, eine Sonderstellung ein. Alleine dieser
Briefwechsel umfasst 381 hand- und maschinenschriftliche Briefe von
Thomas Bernhard und 245 Briefe von Hedwig Stavianicek. Er ist für die
Dauer von 10 Jahre nur mit Zustimmung der Erben einsehbar.

Thomas Bernhard hat unablässig geschrieben, korrigiert, Entwürfe
verfasst und wieder verworfen. Der Schreibprozess ist wiederholt
Thema seiner Texte. Im Roman „Alte Meister“ heißt es: „Die höchste
Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann
die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und
wie grauenhaft ist das Ganze und ist uns im Grunde das fertige
Vollkommene.“

Der Nachlass eröffnet vielfältige Perspektiven für Publikationen,
digitale Editionen, Online-Präsentationen oder Veranstaltungen, um
dieses einzigartige Lebenswerk einer breiten Öffentlichkeit noch
zugänglicher zu machen. Das Literaturmuseum der Österreichischen
Nationalbibliothek, in dessen Dauerausstellung zur österreichischen
Literatur bereits jetzt Filme, Fotos, Briefe und Manuskripte von und
zu Thomas Bernhard gezeigt werden, soll Ort für weitere Begegnungen
mit Thomas Bernhards literarischem Vermächtnis werden.

Durch die bereits in der Anfangsphase der Bearbeitung des Nachlasses
am Thomas Bernhard-Archiv in Gmunden erfolgte Einbindung des
Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek ist eine
Kontinuität in der Bearbeitung gewährleistet. Das Literaturarchiv
beherbergt die wichtigsten literarischen Nachlässe und Sammlungen aus
Österreich im 20. Jahrhundert, von Karl Kraus und Robert Musil über
die mit Bernhard bekannte Hilde Spiel bis zu der von ihm verehrten
Ingeborg Bachmann und zu Peter Handke. In diesen Beständen finden
sich zahlreiche Bezüge zu Thomas Bernhard, kleinere Sammlungen mit
Briefen, Zeichnungen und Lebensdokumenten wurden in den letzten
Jahren kontinuierlich erworben.

„Thomas Bernhard hat einen singulären literarischen Kosmos
geschaffen, in dem Sprache, Stil und Weltanschauung unauflöslich
ineinander verwoben sind. Der Nachlass gewährt Einblicke in die
Werkstatt, in der Bernhards Themen wie die Verdrängung der
nationalsozialistischen Vergangenheit und das Verhältnis von Geist
und Körper angesichts des Todes bearbeitet werden“, so Dr. Bernhard
Fetz, Direktor des Literaturarchivs und des Literaturmuseums der
Österreichischen Nationalbibliothek

In Bernhards Autobiographie spielt die Beziehung zum Großvater, dem
Schriftsteller Johannes Freumbichler (1881-1949), eine zentrale
Rolle. „Die Großväter sind die Lehrer, die eigentlichen Philosophen
jedes Menschen“, heißt es in „Ein Kind“ (1982). Der zeitlebens
weitgehend erfolglose Schriftsteller Johannes Freumbichler kann als
Modell für die vielen scheiternden Künstlerfiguren und
Privatgelehrten im Werk Bernhards gesehen werden. Sein 1937 im
Zsolnay Verlag erschienener „Salzburger Bauernroman“ „Philomena
Ellenhub“ wurde zum „erste(n) und einzige(n) Erfolg“, wie Bernhard in
„Ein Kind“ feststellt. Johannes Freumbichlers kompletter Nachlass,
bestehend aus Werkmanuskripten, Korrespondenzen, Lebensdokumenten und
Sammelstücken im Umfang von 44 Archivboxen wurde ebenfalls erworben.

Werk und Wirkung
Kultfigur und Objekt der Bewunderung für seine Fans, Reibebaum für
bereits mehrere Generationen von AutorInnen – Thomas Bernhard ist
einer der international wichtigsten und meistdiskutierten Vertreter
der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Ab Mitte der 1960er-Jahre
bis zu seinem Tod sorgten Werk und Person Thomas Bernhards
(1931-1989) für ständig wachsendes Aufsehen. Eine Reihe von
öffentlichen Erregungen begleiteten die Rezeption seines Werks. Die
öffentlichen Attacken des Autors auf Politiker sind legendär, ebenso
wie die Anfeindungen, denen Bernhard ausgesetzt war. Die Aufführung
des Stückes „Heldenplatz“ im Gedenkjahr 1988 wurde zu einem Prüfstein
für Österreichs Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Weit über einen engeren Kreis der Leserschaft wurde der Autor zu
einer öffentlichen Figur, eine Rolle, die Bernhard in Interviews und
öffentlichen Stellungnahmen über Jahrzehnte virtuos einnahm.

Bernhard studierte ab 1956 Schauspiel, Regie und Dramaturgie am
Salzburger Mozarteum. Im Juni 1957 legte er die Reifeprüfung am
Schauspielseminar ab. Das frühe Interesse an Musik und Theater zeigt
sich auch an den vielen unveröffentlichten Entwürfen im Nachlass.
Mit dem Stück „Ein Fest für Boris“, das am 29. Juni 1970 unter der
Regie von Claus Peymann in Hamburg uraufgeführt wurde, begann
Bernhards internationale Theaterkarriere, die Anfang der 1960er-Jahre
mit kurzen Einaktern und zwei Opernlibretti zur Musik von Gerhard
Lampersberg am Kärntner Tonhof eingesetzt hatte. Neben frühen, vor
allem Gerichtsreportagen für das Salzburger „Demokratische
Volksblatt“ (1952 bis 1954) und Lyrikbänden („In hora mortis“, „Unter
dem Eisen des Mondes“, beide 1958) folgten von „Frost“ (1963) über
„Verstörung“ (1967) bis zu „Heldenplatz“ (1988) eine große Zahl an
Prosawerken und insgesamt 18 abendfüllenden Theaterstücken, die heute
zum Kernbestand der deutschsprachigen Literatur zählen. Das
literarische Vexierspiel mit Wirklichkeit und Fiktion im Roman
„Holzfällen“ oder in der Autobiografie (1975-1982) sorgte für
Skandale in der Öffentlichkeit und für literaturtheoretische
wissenschaftliche Arbeiten.

Die Wirkung des Autors lässt sich an den zahlreichen künstlerischen
Bearbeitungen seiner Werke ablesen, ebenso wie an den stilistischen
Anleihen und direkten Bezugnahmen durch viele zeitgenössische
Autorinnen und Autoren, vom ungarischen Nobelpreisträger und
KZ-Überlebenden Imre Kertész bis zum französischen Skandalautor
Michel Houellebecq. Ungezählt sind die wissenschaftlichen Arbeiten,
die auf der ganzen Welt zu Bernhards Leben und Werk entstanden.
Bernhards Präsenz belegen außerdem die zahlreichen Übersetzungen und
aktuellen Theater-Inszenierungen. Es gibt sehr wenige AutorInnen,
deren Werk auch Jahrzehnte nach ihrem Tod noch eine vergleichbare
internationale Wirkung entfaltet.

Bild(er) zu dieser Aussendung finden Sie im AOM / Originalbild-Service
sowie im OTS-Bildarchiv unter http://bild.ots.at

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NBR

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel