• 18.11.2022, 12:45:29
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  • OTS0133

Europäische Care-Strategie: Erster Schritt, vieles offen, zu unverbindlich

Auf dem Weg zu einer gendersensiblen und nachhaltigen Pflegestrategie

Utl.: Auf dem Weg zu einer gendersensiblen und nachhaltigen
Pflegestrategie =

Brüssel/Wien (OTS) - Die im September 2022 präsentierte Europäische
Care Strategie war Thema mehrerer Veranstaltungen in Brüssel, an
denen u.a. AK Präsidentin Renate Anderl, der für Pflege zuständige
Volksanwalt Bernhard Achitz, Mitglieder des Europäischen Parlaments
und Vertreter:innen von NGOs teilnahmen. Die Europäische Kommission
hat Anfang September eine Pflege- und Betreuungsstrategie (European
Care Strategy) präsentiert. Sie soll einen Beitrag dazu leisten, die
Situation der Pflegenden, die Qualität der Betreuung von
Pflegebedürftigen, die Elementarpädagogik und Kinderbetreuung zu
verbessern.

Anderl: Finanzierung von Pflege und Betreuung mit gerechten
Steuern
Bei einem Austausch im Europäischen Parlament auf Einladung der
Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Evelyn Regner, und im
Rahmen einer Podiumsdiskussion in der Ständigen Vertretung machte AK
Präsident Renate Anderl den Standpunkt der Arbeiterkammer deutlich:
„Es ist gut, dass die Themen Pflege und Betreuung nun auf die
europäische Ebene gehoben wurden. Arbeiterkammer und Gewerkschaften
haben schon vor Beginn der Pandemie auf die Herausforderungen in der
Pflege hingewiesen, wir begrüßen die Pflegestrategie daher.“
Allerdings würden wichtige Dinge fehlen, darunter überprüfbare Ziele
und konkrete europarechtliche Maßnahmen, um diese auch zu erreichen.
Die Beschränkung von Care-Arbeit auf Kinderbetreuung und
Langzeitpflege lasse außerdem große Bereiche von Care-Arbeit
unberücksichtigt. Zur Frage der Finanzierung von Pflege und Betreuung
ist Anderl deutlich: „Wir sehen, dass die Reichen reicher werden und
die Armen ärmer, die Sozialstaaten kommen unter Druck. Daher brauchen
wir endlich gerechtere Steuern, vor allem Erbschafts- und
Vermögenssteuern.“

Brglez: Pflegethema weiter fassen
EU-Abgeordneter Milan Brglez, Co-Berichterstatter des
Initiativberichts zur Pflegestrategie, stimmt beim Austausch im
Parlament dem Ansatz zu, dass die Pflegestrategie breiter gedacht
werden müsse. „Man muss das Thema von beiden Seiten betrachten: Die
Menschen, die Pflege brauchen, müssen ein Recht darauf haben.“ Und
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Pflegebranchen hätten ein
Recht auf gute Arbeitsbedingungen. Ein Problem sah Brglez darin, dass
man über das Thema auf europäischer Ebene gar nicht sprechen würde,
hätte es die Pandemie nicht gegeben. „Erst die Pandemie hat deutlich
gemacht, dass es um ein gemeinsames Problem geht, das man gemeinsam
lösen muss.“ Brglez schlägt einen European Care Deal vor, der mehr
beinhalte als die aktuelle Strategie.

Volksanwalt Achitz: EU muss Fokus der Care Strategy verbreitern
„Mit der Pflege gibt es in vielen Ländern große Probleme. Es ist
daher wichtig, dass sich die EU mit der European Care Strategy dieses
Themas annimmt. Das erhöht den Druck auf die Mitgliedsländer, der
Pflege mehr Aufmerksamkeit zu widmen und mehr Ressourcen
bereitzustellen“, sagte Volksanwalt Bernhard Achitz. Die
Volksanwaltschaft geht nicht nur Beschwerden über österreichische
Behörden nach, sie ist auch Nationales Menschenrechtsinstitut und
auch für die präventive Menschenrechtskontrolle in Einrichtungen
zuständig, wo es zu Freiheitsbeschränkungen kommen kann. Das sind
nicht nur Gefängnisse, sondern zum Beispiel auch Alten- und
Pflegeheime, Jugend-WGs, Psychiatrien oder Einrichtungen für Menschen
mit Behinderungen. Achitz: „Überall dort sehen wir: Je größer der
Personalmangel, desto höher die Gefahr, dass Menschenrechte verletzt
werden.“ Die Care Strategy befasst sich einerseits mit der
Altenpflege, andererseits mit den Kindergärten - „aber alles
dazwischen kommt leider nicht vor“, fordert Achitz einen „breiteren
Fokus der Care Strategy, etwa auf Einrichtungen für Menschen mit
Behinderungen sowie für Kinder und Jugendliche.“ Viel Geld würde in
die Pflegeausbildung fließen, aber die Absolvent:innen würden vor
allem in den Spitälern arbeiten wollen. „Die
Langzeitpflegeeinrichtungen haben davon aber nicht viel, der Druck
auf die Arbeitsbedingungen bleibt.“ Eine Aufgabe für eine
EU-Care-Strategy wären die Erhebung des Pflegebedarfs für jedes Land,
damit klar ist, wie weit das Pflegeangebot ausgeweitet werden muss.
Auch klare Vorgaben für Personalschlüssel in allen Bereichen der
formellen Pflege sind notwendig. „Und zwar reale Personalschlüssel,
Langzeitkrankenstände, Karenzen usw. dürfen nicht eingerechnet
werden“, so Achitz. Mindeststandards sollte die EU für die
24-Stunden-Betreuung definieren. Achitz: „In Österreich herrscht hier
legalisierte Scheinselbständigkeit. Regulierung ist überfällig.“

Regner: Ausgangspunkt der Care-Strategie war Thema Gleichstellung
„Es ist gut, dass es die Europäische Pflegestrategie gibt, sie
enthält gute Elemente – allerdings fehlt einiges“, betont Evelyn
Regner, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Nur dank der
beharrlichen Vorarbeiten im Gleichstellungsausschuss des
EU-Parlaments, in dem Evelyn Regner Mitglied ist, hat die
EU-Kommission überhaupt etwas vorgelegt. „Wir haben uns dort die
Auswirkungen von COVID auf die Frauen angeschaut. Die bestehenden
Ungleichheiten haben sich in der Krise noch weiter verschärft. Wir
haben die Kommission aufgefordert, etwas vorzulegen, damit die
Gleichstellung nicht noch weiter zurückfällt, das war der
Ausgangspunkt der Care-Strategie.“ Auch Regner sieht, dass der Blick
auf das Thema daher breiter sein müsse. Sie bedauert außerdem, dass
es sich nur um Empfehlungen handle, die nicht verbindlich umzusetzen
seien.

„Die Care Strategie ist ein Schritt, Care-Arbeit auf EU-Level zu
heben, das ist gut“, betont EU-Abgeordnete Maria Manuel
Leitao-Marques, Schattenberichterstatterin zum Initiativbericht zur
Pflegestrategie. Auch ihr geht sie allerdings zu wenig weit, private
Care-Arbeit, oft unbezahlt von Frauen verrichtet, sei gar nicht im
Fokus. Mark Bergfeld, Direktor Pflegesektor bei UNI Europa,
kritisiert, dass es für die Personalsituation keine einheitlichen
Standards gebe. „Bei Personalschlüsseln rechnen manche Einrichtungen
auch Putzkräfte und Küchenpersonal dazu.“ Auch Bergfeld spricht den
Genderaspekt an: „Die Situation würde sich rasch ändern, wenn in den
Care-Branchen mehrheitlich Männer arbeiten würden.“ Aude Bousseuil,
Generaldelegierte beim Europäischen Verband für
Familienbeschäftigung, häusliche Pflege & Home Care, kann der
Care-Strategie positiv abgewinnen, das es sie überhaupt gibt.
Allerdings geht es auch ihr zu wenig weit: „Private Care-Arbeit ist
noch weniger im Fokus als Pflegearbeit generell. Dass sie in der
Strategie kaum Erwähnung findet, lässt zwei Klassen von
Pflegearbeitsmarkt befürchten.“

Arbeitsbedingungen und Einkommen als Knackpunkt für mehr Personal
„Auch Arbeitgeber teilen die Sicht, dass es wichtig ist, dass es
die Strategie nun gibt“, sagt Gregor Tomschizek, Präsident von Social
Employers, bei der Podiumsdiskussion. Es würden die richtigen Themen
angesprochen, konkrete Lösungsansätze fehlen allerdings. Man könne
das als Leitfaden sehen, an dem weitergearbeitet werden müsse.“ Ein
großes Problem sei der Personalmangel in der Sozialwirtschaft, den
Tomschizek auf die oft erheblich schlechtere Bezahlung zurückführt.
Dabei gebe es in Österreich und in Europa kaum eine Branche mit so
großem Wachstum wie die Pflege. Ihm seien zwei Aspekte wichtig: Die
Leistungen müssten leistbar und erreichbar sein und es müsse
angemessen Gehälter für die Beschäftigten geben. Jan Willem
Goudriaan, EPSU-Generalsekretär, bestätigt, dass der Arbeitsdruck in
der Branche extrem sei, das sei vor allem auf zu wenig Personal
zurückzuführen. Laut EPSU hätten 420.000 Arbeitnehmer:innen die
Branche verlassen. „Wenn das nicht bearbeitet wird, wird das eine
ganz große Krise. Wir haben die Strategie begrüßt, sie könnte aber
mehr Biss haben, zum Beispiel könnte man öffentliche Förderungen an
das Vorhandensein von Kollektivverträgen knüpfen. Positiv bewerte
Goudriaan an der Pflegestrategie, dass sie die Ansicht der Kommission
deutlich mache, dass Pflege und Betreuung öffentliche Güter seien.

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