• 30.09.2022, 12:00:33
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Neue Studie weist Vorrang identitätspolitischer Wahlmotive nach

Friedrich-Ebert-Stiftung und Yale University haben erforscht: Für identitätspolitische Interessen sind wir bereit, auch undemokratische Politiker:innen zu wählen.

Wien (OTS) - 

Eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur schleichenden Aushöhlung der Demokratie zeigt, dass sich identitätspolitische Interessen als Wahlmotive gegen demokratische Interessen durchsetzen: Wenn es um Themen wie die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare oder Einwanderung geht, tolerieren Wähler:innen eher Verstöße ihrer bevorzugten Kandidat:innen gegen demokratische Grundsätze, als gegen ihr eigenes „Lager“ zu stimmen. 

Bürger:innen halten die Demokratie für die beste Regierungsform und wählen dennoch regelmäßig Politiker:innen, die die Demokratie untergraben. Vor dem Hintergrund dieses Trends zur schleichenden Autokratisierung hat das in Wien ansässige Regionalbüro „Demokratie der Zukunft“ der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Befragungsexperiment in sieben europäischen Ländern (Schweden, Deutschland, Spanien, Serbien, Polen, Estland und Ukraine) durchgeführt, um die aktuelle Einstellung zur Demokratie zu ermitteln: Im experimentellen Teil der Umfrage mussten die Befragten sich immer wieder zwischen Kandidat:innen mit unterschiedlichen politischen Positionen entscheiden, wodurch die Auswirkungen des Versuchs einer Kandidatin, die Demokratie zu untergraben, auf ihre Wahlaussichten isoliert werden konnten. So konnte erhoben werden, ob Wähler:innen die Demokratie ausreichend wertschätzen, um Politiker:innen zu bestrafen, die undemokratische Haltungen vertreten. 

Gruppen- und Parteibindung sind entscheidend 

Dem Ergebnis der vom Marktforschungsinstitut Ipsos durchgeführten Befragung zufolge schätzt eine Mehrheit der Wähler:innen die Demokratie und bestraft grundsätzlich Kandidat:innen, die gegen demokratische Normen verstoßen, allerdings nicht sehr stark: Für demokratische Verstöße verliert eine Kandidatin im Durchschnitt 7,8% der Stimmenanteile. Unter bestimmten Umständen entscheiden sich Wähler:innen auch dann für eine bestimmte Kandidatin, wenn diese undemokratische Positionen vertritt. In identitätspolitischen Fragen missachten Wähler:innen eher undemokratische Ansichten von Kandidat:innen, als gegen ihr eigenes „Lager“ zu stimmen. Rein sozioökonomische Interessen haben im Vergleich mit identitätspolitischen Interessen nachweislich nicht den gleichen Einfluss. Diese Bereitschaft auf Seiten der Wählerschaft, gegen die von ihnen bevorzugte Identitätspolitik andere demokratische Werte einzutauschen, wurde in allen sieben untersuchten europäischen Staaten nachgewiesen.

Der Befragung zufolge sind Wähler:innen zudem in erster Linie Parteigänger:innen und erst in zweiter Linie Demokrat:innen: Die meisten Wähler:innen verzeihen Kandidat:innen das Verstoßen gegen demokratische Normen, solange die Kandidatin aus der von der Wählerin bevorzugten Partei kommt. In jedem untersuchten Land traf zu, dass die undemokratische Kandidatin der bevorzugten Partei eine demokratische Kandidatin einer anderen Partei aussticht: Am niedrigsten fiel die Parteiloyalität in Schweden als Faktor für ein Plus von 21,6% der Stimmenanteile aus; der höchste Wert wurde für Polen ermittelt, wo Kandidat:innen an der Wahlurne mit einem Plus von 29,0% für die Zugehörigkeit zur richtigen Partei belohnt werden. Am wenigsten bereit, ihre bevorzugten Kandidat:innen für undemokratische Positionen an der Wahlurne zu bestrafen, sind Anhänger:innen rechtspopulistischer Parteien. Befragte mit höherem Bildungsabschluss, Interesse an Politik, Demokratieverständnis und einer ablehnenden Haltung gegenüber einem starken Führer bestrafen undemokratische Politiker:innen mehr als andere Gruppen.

Kompromisse zugunsten identitätspolitischer Interessen auch ohne Polarisierung

Bei einer Anwendung desselben experimentellen Forschungsdesigns in den USA konnte der Politikwissenschafter Milan Svolik von der Yale University nachweisen, dass Wähler:innen dort insbesondere bei stark polarisierenden Themen bereit waren, undemokratische Positionen von Kandidat:innen zu tolerieren. Auch in den untersuchten europäischen Ländern polarisieren identitätspolitische Themen grundsätzlich stärker als sozioökonomische Themen wie beispielsweise Steuern. Doch nicht immer ist die Wählerschaft in identitätspolitischen Themen polarisiert – und dennoch wählt sie aus den Kandidat:innen auch dann jene Person aus, die ihre identitätspolitischen Interessen vertritt, wenn diese in ihren übrigen Positionen eine undemokratische Haltung einnimmt. Einige identitätspolitische Themen bewirken also keine starke Polarisierung der Wählerschaft, aber sie werden von den Wähler:innen als so wichtig erachtet, dass sie für diese Themen bereit sind, über undemokratisches Verhalten der Kandidat:innen hinwegzusehen.

Politische Effekte und Empfehlungen

 „Mit der in unserer Studie nachgewiesenen Gruppentreue in identitätspolitischen Fragen können Autokratisierungsprozesse befeuert werden“, so Johanna Lutz, die Leiterin des Regionalbüros Demokratie der Zukunft der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Fokussierung auf Identitätsfragen schütze Politiker:innen überall nachweislich vor Stimmverlusten. „Indem Politiker:innen in einer identitätspolitischen Frage klar Stellung beziehen, können sie Wahlen für sich entscheiden – auch in Westeuropa. Einige Politiker:innen in den osteuropäischen Ländern haben diese Mechanismen nur bereits besser verstanden und effizienter für ihre eigenen Interessen genutzt“, so Lutz weiter. Identitätsfragen könnten aber auch in Westeuropa zum Einfallstor für die Erosion der Demokratie werden: Mithilfe der Instrumentalisierung der identitätspolitischen Themen lasse sich die Aushöhlung der Demokratie vorantreiben.

Infografiken stehen auf fes.de/lnk/polarization-identity zur Verfügung.

Rückfragen & Kontakt

Margarete Lengger
FES Regionalbüro 'Demokratie der Zukunft'
Reichsratsstraße 13/5, 1010 Wien
Tel.: +43 (0) 1 890 3811 205
democracy.vienna@fes.de
Twitter: @FES_Democracy

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