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Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 17. Mai 2022. Von MICHAEL SPRENGER. "Sicherheitspolitik ohne Streit ist keine".
Innsbruck (OTS) - Demokratie lebt von Auseinandersetzung. Eine
Debatte im Keim zu ersticken, geht gar nicht. Dieses
Nicht-einmal-darüber-reden-Wollen gefährdet letzten Endes Demokratie.
Und die Neutralität? Diese erklärt man zur „heiligen Kuh“.
Wenn von der Krise der Demokratie gesprochen wird, kommt man
unweigerlich auf eine verkümmerte Debattenkultur zu sprechen. Vor
allem hierzulande. Es war der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut
Schmidt, der feststellte: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten
wird, ist keine.“
Obwohl Österreich schon länger den Weg von einer Konsensdemokratie
hin zu einer Konfliktdemokratie eingeschlagen hat, ist die politische
Auseinandersetzung, das Austragen von Gegensätzen schlecht
beleumundet.
Doch Demokratie braucht Streit und Konflikt auf allen Ebenen – denn
ohne Streit stirbt die Demokratie.
Dies gilt für alle politischen Themenbereiche, und vor allem für die
Sicherheitspolitik. Sich dieser Debatte zu verweigern, sie nicht
einmal zuzulassen, ist grob fahrlässig und gefährlich.
Und ja, wenn man in Österreich über Sicherheitspolitik sprechen will,
muss zwangsläufig über die Neutralität gesprochen werden. Und das
getraut man sich nicht. Obwohl die Neutralität mit dem EU-Beitritt
immer weiter ausgehöhlt worden ist, wurde sie zur „heiligen Kuh“
erklärt.
Zweifelsohne – Österreich erlebte seit 1955, mit der Unterzeichnung
des Staatsvertrages, einen enormen wirtschaftspolitischen Aufstieg.
Bruno Kreisky nützte die Neutralität als Basis für seine aktive
Außenpolitik. Doch Österreich hat sich schon lange von einer aktiven
Außenpolitik verabschiedet, und das heimische Wirtschaftswunder
entstand nicht aufgrund der Neutralität. Denn unser Land nahm nie
eine neutrale Position zwischen kommunistischer Planwirtschaft und
(sozialer) Marktwirtschaft ein. Österreich war immerzu westlich
orientiert. Neutralität ist längst zu einem Mythos verkommen.
Doch die Welt hat sich seit dem von Wladimir Putin zu verantwortenden
Angriffskrieg gegen die Ukraine dramatisch verändert. Was dies für
die Sicherheitspolitik bedeutet, darüber sollte trefflich gestritten
werden.
Jetzt müsste ein breit angelegter Diskurs über alle Parteigrenzen
hinweg, unter Einbindung von Experten, beginnen. Das Ergebnis solch
einer Debatte könnte am Ende bedeuten, dass Österreich NATO-Mitglied
wird. Es könnte aber auch bedeuten, dass wir mit einer zeitgemäßen
Sicherheitsdoktrin die Neutralität neu aufsetzen müssen oder uns zum
Vorreiter machen für eine echte europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, also für eine europäische Armee. Aber eine
Debatte zu verweigern, sie schon im Keim zu ersticken, geht gar
nicht.
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