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mumok: Hermann Nitsch (1938–2022) – ein Universalist der Künste

Wien (OTS) - Der geschichtsverdrängenden und von einem konservativen Katholizismus geprägten österreichischen Nachkriegsgesellschaft hielt die Kunst von Hermann Nitsch und seinen Mitstreitern des Wiener Aktionismus unverhohlen den Spiegel vor. Gegen die gesellschaftliche Flucht in die nationale Opferrolle und das künstlerische Behübschen mit einer verspäteten Modernerezeption setzte Nitsch in seiner Arbeit auf eine Unmittelbarkeit und sinnliche Intensität, die das Triebhafte und Emotionale offen und unverblümt zum Ausdruck bringen sollte. Nicht die landläufige Tabuisierung, sondern der provokante Tabubruch wurde zum Markenzeichen seines künstlerischen Handelns, das seit den frühen 1970er-Jahren in Form des „Orgien Mysterien Theaters“ auf seinem Schloss in Prinzendorf ein bis heute kontinuierlich entwickeltes theatrales Gesamtkunstwerk hervorbrachte, in dem sich Nitsch als künstlerischer Universalist erwies. Ihn nur als bildenden Künstler oder Maler zu bezeichnen, würde daher zu kurz greifen. Als ausgebildeter Grafiker schuf er nicht nur ein außerordentlich professionelles zeichnerisches Werk, sondern legte eine Zielstrebigkeit und Genauigkeit an den Tag, die ebenso sein musikalisches wie auch sein choreografisches Schaffen kennzeichnet. Davon konnte man sich in zahlreichen Aufführungen an renommierten Opernhäuern und Theatern, wie etwa dem Wiener Burgtheater (2005) oder zuletzt in Bayreuth (2021) überzeugen, wo Nitsch die Bühnenräume in Schauplätze seiner sinnlich opulenten Inszenierungskunst verwandelte.

In Hermann Nitschs Arbeit und deren Rezeptionsgeschichte spiegeln sich sowohl die gesellschaftsgeschichtlichen wie auch die kunstgeschichtlichen Konflikte seit den 1960er-Jahren wider. Dass sich dabei an seiner Kunst bis heute die Geister scheiden, trifft auf mehrfache Weise zu: Es sind nicht nur verkappte Ewiggestrige, die einem gesellschaftsresistenten traditionalistischen Kunstbegriff huldigen, sondern auch innerhalb der Fachwelt hält die Diskussion über den Unmittelbarkeitskult und das Ekstatische als relevante Kriterien für eine Wahrheitsfindung durch Kunst an. All dies spricht nicht gegen, sondern für die Lebendigkeit eines Werks, das sich von Anfang an nicht an gesellschaftliche Konventionen oder kunstgeschichtliche Diskurse gehalten hat, sondern diese im Gegenteil immer wieder herausforderte.

Die Geschichte des mumok ist eng mit der Geschichte von Hermann Nitsch und des Wiener Aktionismus verbunden. Als internationales Kompetenzzentrum des Wiener Aktionismus hatte und hat das Museum auch die Möglichkeit, die herausragende internationale Bedeutung Nitschs zu vermitteln. Dies geschieht neben großen Retrospektiven auch in thematischen Ausstellungen, in denen durch neue Kontextualisierungen die inhaltliche Fülle und Aktualität des Werks erkennbar wird. Dabei zeigt sich, dass gerade im Vergleich mit zeitgenössischen Positionen der Body- und Performance Art und deren Wirkungsgeschichte in der Gegenwart, die spezifische Eigenart und Qualität, die nicht zuletzt auch in der Bezugnahme auf die lokale Tradition der Philosophie und der Moderne in Wien um 1900 gründet, erkennbar wird. Nitsch hat diese Traditionslinien aufgegriffen, sie an der Gegenwart erprobt und in unterschiedlichen künstlerischen Medien und Techniken umgeschrieben. Er hat aber auch gezeigt, dass die Wahrheit ein ambivalentes Phänomen ist, worin Ekel und Lust, Hässliches und Schönes eng beieinander liegen und auch ständig ineinander umschlagen können. Mit seinem Tod verlieren wir einen Universalisten der Künste, der dem Wesen des Seins durch Kunst nachspürte. Sein scharfsinniger Geist wird uns fehlen.

Karola Kraus, Rainer Fuchs und das Team des mumok

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