Stellungnahme von Gerhard Baumgartner (DÖW) zu seinem Austritt aus der Österreichisch-Russischen Historikerkommission
Wien (OTS) - Aus Protest gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit seinen Tausenden von unschuldigen Opfern sowie in Solidarität mit und im Bangen um meine ukrainischen KollegInnen und ihre Familien erkläre ich hiermit meinen Austritt aus der Österreichisch-Russischen Historikerkommission (ÖRHK).
Gleichzeitig protestiere ich gegen die politische Verfolgung von russischen PazifistInnen und KriegsgegnerInnen sowie gegen die Schandurteile, mit welchen politisch gegängelte russische Gerichte versuchen, kritische HistorikerInnen und WissenschafterInnen mundtot zu machen. Soeben wurde Swetlana Gannuschkina, die 80-jährige Menschenrechtlerin, Vorsitzende der Flüchtlingsorganisation „Komitee Bürgerbeteiligung“, Vorstandsmitglied des Menschenrechtszentrums Memorial und Trägerin des Alternativen Nobelpreises von 2016, vor ein Moskauer Gericht gezerrt, weil sie an einer Veranstaltung gegen die „Sonderoperation in der Ukraine“ teilgenommen hatte.
Das Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) bemüht sich seit vielen Jahren, das Andenken jener ÖsterreicherInnen hochzuhalten, die in der Zwischenkriegszeit in die Sowjetunion ausgewandert sind, um ihre Ideale und Träume von einer gerechteren, sozialistischen Welt zu verwirklichen. Völlig unschuldig fanden viele von ihnen den Tod in den Gulaglagern oder fielen den „Säuberungswellen“ des stalinistischen Terrorapparates der 1930er Jahre zum Opfer. Gemeinsam mit HistorikerInnen und AktivistInnen der Gruppe Memorial konnten wir zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher namentlich eruieren, die damals zu Opfern der Verleumdungskampagnen stalinistischer Geheimdienstmitarbeiter wurden. Die Menschenrechtsorganisation Memorial ist heute zerschlagen, ihre Archive beschlagnahmt und wohl weitgehend zerstört. Ihre MitarbeiterInnen werden bedroht und festgenommen, manche mussten bereits untertauchen oder ins Ausland gehen. Die russische Regierung und ihre Handlanger behindern systematisch die Dokumentation der Geschichte des Gulagsystems und seiner Opfer und befördern heute wieder offen eine breit angelegte Rehabilitierung Stalins und seiner mörderischen Politik.
Viele ÖsterreicherInnen haben 1945 die sowjetische Armee und ihre Soldaten freudig als Befreier von Nationalsozialismus und Tyrannei begrüßt und viele WienerInnen haben bis heute nicht jene 1.000 Tonnen Erbsen vergessen, die Marschall Fjodor Tolbuchin im Frühjahr 1945 an die hungernde Bevölkerung verteilen ließ, wodurch er unzählige Menschen vor dem Hungertod bewahrte. Das Ansehen der russischen Armee ist durch den aktuellen Angriffskrieg nachhaltig beschädigt.
Wladimir Putins sinnloser, mörderischer Krieg nötigt mich, jegliche Kooperation mit offiziellen Institutionen dieses russischen Staatsapparates aufzukündigen, auch wenn – wie ich weiß – bei Weitem nicht alle VertreterInnen der wissenschaftlichen Einrichtungen Russlands diesen Krieg gutheißen. Mit vielen meiner aufrechten, hilflosen und verzweifelten ukrainischen und russischen FreundInnen und KollegInnen trauere ich um die unschuldigen ukrainischen Opfer dieses Krieges, um die demokratischen Errungenschaften der letzten 30 Jahre sowie nicht zuletzt um das große europäische Erbe der einstigen Kulturnationen Russland, das heute in Barbarei versinkt.
Meine geschätzten KollegInnen in der ÖRHK fordere ich auf, es mir gleichzutun.
Gerhard Baumgartner
Wissenschaftlicher Leiter DÖW
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Christine Schindler, BA MBA
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