Bures betonte in Eröffnungsrede das kreative Potenzial der Kontroverse
Utl.: Bures betonte in Eröffnungsrede das kreative Potenzial der
Kontroverse =
Wien (PK) - Die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures eröffnete
heute in Linz das Brucknerfest mit dieser Eröffnungsrede:
"Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich werde Ihnen zwei Geschichten erzählen: über zwei zu Tränen
gerührte Männer. An die erste können sich die etwas älteren Semester
vielleicht erinnern. Sie hat am ersten Blick vielleicht wenig mit
unserem heutigen Anlass, umso mehr aber mit dem heutigen Thema, dem
der Kontroverse zu tun.
Es ist eine Episode aus 'Don Camillo und Peppone'. Ein Schwarz-Weiß
Film aus den 1950er-Jahren nach den Romanen von Giovannino Guaresci
mit Don Camillo als katholischem Pfarrer und dem kommunistischen
Bürgermeister Peppone. Also der Verkörperung der damals aktuellen
scharfen Polarität zwischen dem ländlich-katholischen und dem linken,
proletarischen Italien.
Die beiden schenkten sich nichts. Konnten doch die Weltbilder und
Haltungen kaum unterschiedlicher sein. Am Ende des Films wird der
Pfarrer versetzt und muss das Dorf verlassen. Er besteigt den Zug
ganz allein. Doch als der Zug in den letzten Bahnhof der Gemeinde
einfährt, sieht Don Camillo eine große Menschenansammlung. Die
Kommunistische Partei mit Bürgermeister Peppone an ihrer Spitze hat
sich versammelt, um Don Camillo zu verabschieden. Peppone war
sichtlich zu Tränen gerührt, als er sich von seinem größten
Widersacher verabschieden musste.
Die zweite Geschichte ist eng verbunden mit dem Leben und besonders
dem Sterben von Anton Bruckner. Am 15. Oktober 1896 - nur vier Tage
nach Bruckners Tod - fand in der Wiener Karlskirche eine Trauerfeier
statt. 8 Jahre jung war einer der Teilnehmer, der später einmal
Präsident der Salzburger Festspiele werden sollte: Bernhard
Paumgartner. Er berichtete davon, dass Bruckners großer Widersacher -
Johannes Brahms - sich nicht nur unbemerkt in die Karlskirche begeben
hat, sondern die Trauerfeier kurz vor ihrem Ende verließ. Brahms
wollte nicht gesehen werden. Doch der 8-jährige Junge erkannte ihn.
Und er erinnerte sich noch lange an Brahms' tränenerfüllte Augen.
Was war es, was diese beiden Männer weinen ließ? Sie waren doch
endlich ihre Widersacher los. Warum überwog nicht ein Gefühl der
Erleichterung?
Weil sie wussten, dass dies kein Sieg war, sondern ein großer
Verlust. Weil sie wussten, dass die Kontroverse - das Thema des
Brucknerfestes - sie vorangetrieben hat und sie eingefahrene
Denkmuster überwinden ließ. Weil sie in der Kontroverse etwas erkannt
haben, das sie Neues und Besseres schaffen ließ. Diese Dialektik
menschlichen Seins treibt uns voran und bringt uns weiter.
In Kunst und Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung hat die
Kontroverse ein großes kreatives Potenzial. Einzig in
gesellschaftspolitischen Debatten scheint die Kontroverse immer mehr
aus der Mode zu fallen. Immer enger werden unsere sozialen Kreise und
das Umfeld, in dem wir uns bewegen. Immer selektiver werden die
Meinungen und damit immer kleiner die Lebensrealitäten, dir wir
wahrnehmen.
Wir wollen zwar etwas hören, aber hören nicht mehr zu.
Wir wollen zwar etwas sehen, aber schauen nicht mehr genau hin.
Wir wollen zwar etwas spüren, aber fühlen nicht mehr mit.
Viel bequemer und sicherer scheint es doch, sich in den gewohnten
kommunikativen 'Blasen' einzurichten und zu bewegen. Unangenehme
Widersprüchlichkeiten können kommod bei Seite geschoben und mit
eingeübten Reflexen verdrängt werden.
Hinzu kommt ein neuer Zeitgeist: Haltungen werden zunehmend durch
Narrative ersetzt. Der politische Diskurs wird als lähmender Streit
diffamiert. Aus Argumenten werden Messages - im besten Fall noch
kontrollierbar. Und der demokratiepolitische Wert einer öffentlichen
Kontroverse wird für Umfragewerte geopfert.
Als Demokratin und Parlamentarierin erfüllt mich diese Entwicklung
mit Sorge. Weil wir dadurch auch den Respekt für unser Gegenüber
verlieren. Heinrich Mann hat einmal gesagt: 'Die Demokratie ist im
Grunde die Anerkennung dafür, dass wir alle füreinander
verantwortlich sind.'
Und der Philosoph Karl Popper beischreibt seine Denkrichtung des
kritischen Rationalismus als Lebenseinstellung. Eine Einstellung -
und ich zitiere: 'die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du Recht
haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die
Spur kommen'.
Die Kontroverse also als Motor in eine bessere Welt… Dieses Bemühen
aufzugeben - und nur mehr die zu hören, die am lautesten sind, nur
mehr die zu sehen, die neben uns stehen, und kaum mehr Mitgefühl für
andere aufzubringen - das gefährdet unseren gesellschaftlichen
Konsens und Zusammenhalt. Nicht abrupt. Doch wie in einer Sanduhr:
Korn für Korn.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Kontroverse alleine ist noch kein Programm. Weder in der Kunst,
noch in der Politik. Das wussten Bruckner und Brahms, das wussten Don
Camillo und Peppone.
Doch als Gesellschaft haben wir mit der 'Kontroverse' ein Instrument,
um gemeinsam auch Besseres zu schaffen. Gerade in einer Krise können
wir es uns nicht leisten, auf umfassende kritische
Auseinandersetzungen zu verzichten. Denn nur durch diese werden wir
den hohen Ansprüchen unserer liberalen Demokratie gerecht. Oder, wie
es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn der
Coronakrise vor dem Bundestag so treffend formulierte: 'Kritik und
Widerspruch sind nicht nur erlaubt, sondern müssen eingefordert und
angehört werden - wechselseitig.'
Kritik und Widerspruch wertschätzen; das bildet auch das Programm des
heurigen Brucknerfestes ab. Ich bin dem Brucknerfest und all seinen
Mitwirkenden sehr dankbar dafür, dass Sie uns dies - gerade heuer und
unter größten Anstrengungen - ins Bewusstsein rufen.
Geschätzte Festgäste!
Als in den letzten Monaten die Bühnen Corona-bedingt verstummten,
wurde es erschreckend still in unserem Land. In den Zeiten des
Lockdowns sind plötzlich viele in Einsamkeit und Isolation auf sich
selbst zurückgeworfen worden. Die Faszination gesellschaftlichen
Lebens und den Zauber eines gemeinsamen Erlebens von Kunst und Kultur
haben wir alle schmerzlich vermisst. Es hat vielen von uns vor Augen
geführt, worin der Unterschied liegt - ob man eben bloß zuhause Musik
hört oder mit anderen Menschen ein Konzert besucht.
Wenn wir eine Aufführung besuchen, lassen wir uns auf etwas ein. Wir
sind konzentriert, aufmerksam. Wir versuchen, die ganz bestimmte
Sichtweise einer Künstlerin oder eines Künstlers zu ergründen und zu
begreifen. Einen Standpunkt zu verstehen.
Und das weckt in uns ganz unterschiedliche Emotionen: es weckt
Zuspruch, oder auch Ablehnung. Gleichgültigkeit oder Begeisterung.
Irritation, oder vielleicht auch eine neue Sicht. Jeder von uns
empfindet es im selben Moment ganz individuell. Und trotzdem schafft
es eine Gemeinschaft. Weil wir genau hinschauen, genau hinhören und
eben etwas fühlen!
Das ist es, was ein Kulturerlebnis so besonders macht. Und das ist
es, was unsere Demokratie gerade jetzt so dringend braucht. Auch
daran erinnert uns das Brucknerfest 2020! Auch dafür danke ich
Intendant Mag. Dietmar Kerschbaum und seinem Team. Und es ist mir
eine große Freude, das Brucknerfest 2020 für eröffnet zu erklären."
Es gilt das gesprochene Wort.
Rückfragen:
Adalbert Wagner
Büro der Zweiten Präsidentin des Nationalrats Doris Bures
Referent
Mobil: +43 676 8900 2456
E-Mail:
adalbert.wagner@parlament.gv.at
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