- 20.08.2020, 22:00:02
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TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: "Gesellschaftliches Gift", von Karin Leitner
Ausgabe vom Freitag, 21. August 2020
Utl.: Ausgabe vom Freitag, 21. August 2020 =
Innsbruck (OTS) - „Reißt euch zusammen!“, hat Gesundheitsminister
Rudolf Anschober in Sachen Corona Richtung Jugendlicher gerufen.
Pauschale Schuldzuweisungen sind kontraproduktiv. Sie verstärken das
Gegeneinander.
Über die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der
Corona-Pandemie wird viel geredet. Zu Recht. Sie sind gravierend. Die
gesellschaftlichen sind bis dato aber unterbeleuchtet. Auch auf diese
ist der Scheinwerfer zu richten.
Es ist nämlich etwas im Gange, das ebenfalls besorgniserregend
ist. Vertreter der einen Gruppe zeigen mit dem Finger auf solche der
anderen. Junge gegen Alte, Leute, die in Österreich urlauben, gegen
die, die das im Ausland tun. Gute Länder werden ausgemacht – und
böse. Manche Politiker verstärken Aversionen, schüren Ressentiments.
„Das Virus kommt mit dem Auto“, befindet ÖVP-Kanzler Sebastian
Kurz plakativ – obwohl sich 70 bis 80 Prozent der Virusträger
hierzulande infiziert haben. „Reißt euch zusammen!“, hat
Grünen-Gesundheitsminister Rudolf Anschober via Twitter gerufen.
Jugendliche sind adressiert: Jene, die aus Kroatien zurückgekehrt und
positiv getestet worden sind, seien durchschnittlich 23,5 Jahre alt.
Abgesehen davon, dass sich zuvorderst die Regierenden
zusammenreißen sollten – wegen schlechter Corona-Verordnungen und
fehlgeleiteter Schreiben zum Familienhärtefonds: Pauschal Schuld
zuzuweisen, ist unredlich und kontraproduktiv.
Jugendliche sind empört, kontern. Pensionisten, die – ohne
Babyelefant zwischen ihnen – in Gastgärten sitzen, werden
abgelichtet, die Fotografien in das Netz gestellt. Als vermeintlicher
Beleg dafür, dass Rentner Virenschleudern sind. Eine
Feindbildproduktion.
Während des Lockdowns fühlten sich viele Ältere noch isolierter,
noch ausgegrenzter als davor. Nun sehen sich Jugendliche unter dem
Verdacht ungehörigen Verhaltens. Gerade in Zeiten wie diesen ist
Miteinander gefragt, nicht noch mehr Gegeneinander. Betroffen von der
Pandemie ist jede und jeder, das Sozialleben aller ist eingeschränkt.
Ansonsten gibt es nichts zu verallgemeinern. Rücksichtslose,
Verantwortungs- und Sorglose, Unbelehrbare, Verschwörungstheoretiker
gibt es in jeder Altersgruppe, in jeder Bildungsschicht. Jene, die
nicht Abstand halten, keine Maske tragen – auch dort, wo sie nicht
nur getragen werden sollte, sondern muss. Das ist kein Generalmerkmal
von Jungen oder Alten. Diese gegeneinander aufzuwiegeln, ist Gift für
die Gesellschaft. Wir wissen vom – auch politischen – Umgang mit
Ausländern, wohin Pauschalisierungen führen. Das, was
auseinanderdividiert wird, lässt sich schwer wieder zusammenführen.
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