Selmayr: Für den Wiederaufbau nach Corona muss Europa seine Anstrengungen multiplizieren
Der wirtschaftliche Wiederaufbau wird laut EU-Kommissionsvertreter Selmayr kein Spaziergang, sondern eine Bergtour. Europa muss sich dafür jetzt rüsten.
Wien (OTS) - „Europa benötigt jetzt starke Instrumente, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Und es braucht einen gemeinsamen Willen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau wird kein Spaziergang im Wienerwald, sondern vielmehr eine Bergtour in den Westalpen. Wenn wir jetzt einen Schritt nach dem anderen setzen, uns gegenseitig unterstützen und keine Energie auf Alleingänge verschwenden, wird Europa gemeinsam ans Ziel gelangen – und an dieser Herausforderung wachsen“, sagte Martin Selmayr, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, heute bei einem Skype-Pressegespräch im Vorfeld der morgigen Videokonferenz des Europäischen Rates. „Europa hat das richtige Rüstzeug. Wir profitieren jetzt von den Mechanismen, die wir in der Finanz- und Wirtschaftskrise entwickelt haben. Sie haben es den EU-Finanzministern ermöglicht, in der Rekordgeschwindigkeit von drei Wochen ein 540-Milliarden-Euro-Paket für die Wirtschaft zu schnüren – zusätzlich zu den schnellen und effektiven Maßnahmen der Europäischen Zentralbank.“
Nun gelte es, den kommenden Finanzrahmen – er soll rund eine Billion Euro umfassen – leistungsfähig zu gestalten und mit Hilfe innovativer Finanzinstrumente bestmöglich für den Wiederaufbau einzusetzen. „Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen: Wenn die Mitgliedstaaten bereit sind, die Finanzmacht des EU-Budgets zu nutzen – hinter diesem steht ja das gemeinsame Zahlungsversprechen von 27 Staaten – dann können aus einem Euro des Steuerzahlers sehr schnell mindestens zehn Euro in der Realwirtschaft werden“, erläutert Selmayr. „Mit dem Juncker-Fonds hat die Europäische Kommission sogar einen Multiplikatoreffekt von 18 erreicht. Für den Wiederaufbau können dabei zeitweise auch EU-Anleihen zur günstigen Finanzierung eingesetzt werden. Dieses Instrument hat die EU seit der Ölkrise in den 1970er-Jahren mehrfach erfolgreich genutzt, und mit Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union steht dafür auch eine bereits getestete Rechtsgrundlage zur Verfügung. Eine schnelle Einigung auf den mehrjährigen Haushalt ist aber nun dringlicher denn je.“
Der Europäische Rat wird morgen beraten, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit Europa nach der Corona-Pandemie wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Unterstützung für jene Staaten, die von der Krise am stärksten betroffen sind, hat laut Selmayr nichts mit Großzügigkeit, sondern mit einer Grundkenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge zu tun. So sei beispielsweise die wirtschaftliche Stabilität Italiens im ureigenen Interesse Österreichs. Schließlich ist Italien der zweitgrößte Handelspartner Österreichs, der jährliche Warenaustausch betrug zuletzt rund 20 Milliarden Euro.
Beihilfenrecht: Befremden über Kritik aus Österreich
Der europäische Binnenmarkt wird eine zentrale Rolle für den Wiederaufbau spielen. „Der Binnenmarkt mit seinen mehr als 400 Millionen Verbrauchern ist die Quelle von Wachstum und Arbeitsplätzen in der EU“, betonte Selmayr. Das Fundament des Binnenmarkts ist dabei ein fairer Wettbewerb. Gerade für kleinere EU-Staaten sei ein intelligent angewandtes EU-Beihilfenrecht von elementarer Bedeutung, unterstrich Selmayr. Es stellt sicher, dass wirtschaftliche Kriterien wie Innovationskraft und Leistungsfähigkeit über den Erfolg eines Unternehmens entscheiden, und nicht die Finanzkraft des Staates. „Das ist in Krisenzeiten noch wichtiger, da einige Staatshaushalte stärker beansprucht sind als andere und sich die Gewichte zwischen großen und kleinen Unternehmen verschieben können.“ Deshalb sorge die Kommission dafür, dass innerhalb der Mitgliedstaaten faire Bedingungen für Klein- und Mittelunternehmen herrschen – und nicht die Größe und das Geschick der Lobbyisten eines Unternehmens die Höhe staatlicher Zuschüsse bestimmen. „Vor diesem Hintergrund ist die Forderung, die Europäische Kommission möge das Beihilfenrecht vollständig suspendieren, doch etwas befremdlich. Die Kommission hat die Regeln schon im März soweit wie möglich flexibilisiert und seit Ausbruch der Corona-Pandemie rund 80 staatliche Maßnahmen in Windeseile geprüft. Alle fertigen Notifizierungen sind von uns in wenigen Tagen genehmigt worden.“ Auch im Falle Österreichs habe die Kommission äußerst rasch Grünes Licht für eine Liquiditätsregelung über 15 Milliarden Euro und ein Garantiemodell für Klein- und Mittelunternehmen gegeben, nachdem sich die österreichische Regierung auf ein konkretes Modell festgelegt hatte.
Warnung vor zweiter Corona-Welle
Das größte Risiko für die wirtschaftliche Erholung sei derzeit eine zweite Corona-Welle, gibt Selmayr zu bedenken. „Die Gefahr einer zweiten Corona-Welle ist real, und sie ist groß, wie die Erfahrungen in Japan und nun auch in Nordchina zeigen.“ Um die Wahrscheinlichkeit einer abermaligen Welle zu minimieren, sei ein stufenweises und gut koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten das Gebot der Stunde. Um dieses sicherzustellen, hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 15. April einen detaillierten Fahrplan mit objektiven Kriterien präsentiert, auf die sich die Mitgliedstaaten stützen sollten, wenn sie über eine Lockerung der Notmaßnahmen entscheiden. Dabei geht es um epidemiologische Fakten, die Kapazitäten des Gesundheitssystems und die Möglichkeit, infizierte Menschen rasch zu identifizieren und erforderlichenfalls unter Quarantäne zu stellen. Einige Mitgliedstaaten greifen vor diesem Hintergrund auf Anti-Corona-Apps zurück, um anonymisierte Daten zu sammeln und im Sinne des Gesundheitsschutzes auszuwerten. Ein EU-Instrumentarium mit grundlegenden Anforderungen und EU-Leitlinien für den Datenschutz sollen einen abgestimmten Ansatz und die Einhaltung von EU-Recht sicherstellen.
Koordiniertes Vorgehen tut laut Selmayr auch im Hinblick auf Grenzöffnungen Not. Bilaterale Vereinbarungen, die zu einem Fleckerlteppich führen, seien gerade für Länder wie Österreich, die an viele Nachbarstaaten grenzen, nicht zielführend. „Eine objektive Beurteilung des Gesundheitsrisikos, nicht der Pass oder die erwartete Spendierfreude im Gastland sollten darüber entscheiden, wer reisen darf. Das Virus kümmert sich weder um die Nationalität noch um den Geldbeutel.“ Es sei folglich vielmehr darauf abzustellen, ob der Ursprungsort und der Bestimmungsort des Reisenden ein sicheres oder gefährdetes Gebiet sind.
Da es sich um eine Pandemie handle, die mittlerweile die gesamte Welt erfasst hat, bedürfe es Zusammenarbeit über die europäischen Grenzen hinaus, um sie zu überwinden, sagte Selmayr. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat für den 4. Mai eine Geberkonferenz einberufen, um Mittel für die weltweite Bekämpfung des Corona-Ausbruchs sicherzustellen. Ein besonderer Fokus müsse auf der Unterstützung Afrikas liegen, ergänzte Selmayr. Mit Blick auf die Zukunft sei es wichtig, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu stärken. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind gemeinsam der größte Geldgeber der WHO, im Vorjahr haben allein die Zahlungen der EU-Institutionen 146 Millionen Euro betragen. Angesichts der Pandemie hat die EU weitere 114 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um im Rahmen der WHO Länder mit schwachen Gesundheitssystemen zu unterstützen. „Das Virus kennt keine Grenzen – die Solidarität Europas muss deshalb jetzt auch über die Grenzen unseres Kontinents reichen“, betonte Selmayr.
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