• 06.02.2020, 22:00:02
  • /
  • OTS0140

TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: "Das Märchen von der Mitte", von Gabriele Starck

Ausgabe vom Freitag, 7. Februar 2020

Utl.: Ausgabe vom Freitag, 7. Februar 2020 =

Innsbruck (OTS) - Die Parteichefs von CDU und FDP in Berlin spielen
sich jetzt als Retter der Anständigkeit auf. Doch sie sind maßgeblich
mitverantwortlich dafür, dass in Thüringen erstmals die AfD einen
Regierungschef bestimmen konnte.

Deutschland kämpft mit sich selbst, und Björn Höcke genießt.
Höcke, das ist jener AfD-Landes­chef, der Faschist genannt werden
darf und dessen so genannter Flügel vom Verfassungsschutz als
Rechtsextremismus-Verdachtsfall geführt wird. Mit Höckes Stimme und
denen der anderen AfD-Abgeordneten hat sich Thomas Kemmerich von der
Fünf-Prozent-Partei FDP am Mittwoch zum Ministerpräsidenten von
Thüringen wählen lassen.
Auch wenn sich Kemmerich gestern dem Druck der Öffentlichkeit, der
Bundesparteien und der Bundeskanzlerin gebeugt hat und bereit ist,
sein Amt wieder abzugeben sowie Neuwahlen anzustreben: Der Schaden
ist angerichtet, das Tabu gebrochen.
Sich jetzt an den Landesparteien abzuputzen und als Retter der
Anständigkeit aufzuspielen, können die Parteichefs von FDP und CDU,
Christian Lindner und Annegret Kramp-Karrenbauer, vergessen. Sie
haben maßgeblich dazu beigetragen, dass es so weit kommen konnte. So
hatte Kemmerich sein Vorgehen mit Lindner abgesprochen, und die
Bundespartei gratulierte ihm zunächst auch zur Wahl. Erst der Protest
gestandener Liberaler hat den Parteivorsitzenden dazu bewogen,
persönlich in Erfurt zu erscheinen und die Reißleine zu ziehen.
Was Frei- und Christdemokraten in Deutschland in unseliger Weise
eint, ist die eingebrannte Ablehnung all dessen, was links sein
könnte. Auch wenn die Narben, die Nazideutschland geschlagen hat,
sehr tief sitzen und gewiss nicht vergessen sind, der Schmerz, den
die Teilung Deutschlands ihnen verursacht hat, ist frischer.
Gewiss: „Die Linke“ ist die Nachfolgepartei der Sozialistischen
Einheitspartei SED. Mit ihr zu tun hat sie aber nur noch in
„homöopathischen“ Dosen. Sprich, man erinnert sich daran, aber es
gibt keinen dort, der sich SED-Diktatur und Repressionen
zurückwünscht. Die deutschen Linken können durchaus auch Populismus,
aber letztlich machen sie dort, wo sie regieren, jene Politik, von
der sich die SPD längst verabschiedet hat. Und der gestern gestürzte
linke Ministerpräsident Bodo Ramelow ist alles andere als ein
Extremist, sondern ein pragmatischer Politiker, der auch mit dem
konservativen Lager kann.
Solange CDU und FDP die Linke in Deutschland mit der AfD und einen
Bodo Ramelow mit Björn Höcke auf eine Stufe stellen, nehmen sie die
Gefahr, die vom Wiedererstarken faschistischer Tendenzen ausgeht,
nicht ernst genug. Das, was am Mittwoch in Thüringen geschah, war ein
großer Schritt in Richtung: Es gibt kein Zurück mehr.

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | PTT

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel