Für die technische Lösung müssen oft gesellschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden.
Der Handystecker, das Blatt Papier, die Zahnbürste: jeder Mensch kommt in seinem Alltag mit zahlreichen genormten Produkten in Berührung. Obwohl die Anwendung von Normen grundsätzlich auf Freiwilligkeit beruht, erlangen sie durch Verweise in Gesetzen oder bei Rechtsstreitigkeiten vor Gericht indirekt Verbindlichkeit.
Technische Standards mit schwerwiegenden Folgen
Mit der Festlegung von technischen Standards sind nicht selten weitgehende gesellschaftspolitische Entscheidungen verbunden, für die Normenschaffende keine demokratische Legitimation besitzen. So stehen zum Beispiel Anforderungen an Feuer-, Lärmschutz, etc. im Spannungsfeld mit der Abwägung zusätzlicher Kosten. Die Entscheidung, wann es nicht mehr wirtschaftlich ist, ein Sicherheitsrisiko weiter zu minimieren, ist keine technische. De facto nehmen Normengremien also gesellschaftspolitische Güterabwägungen vor, die eigentlich in demokratischen, staatlichen Prozessen zu machen wären. Dazu kommt, dass die Anwendung von Normen zwar grundsätzlich freiwillig ist, ihre Wirkung tatsächlich jedoch weit darüber hinausgeht: bei Rechtsstreitigkeiten werden sie oft als „Beweis“ für den alleinigen aktuellen Stand der Technik herangezogen. Der Gegenbeweis ist oft kostspielig, schwierig und riskant. Um diese Risiken zu vermeiden, halten sich Anwender lieber „freiwillig“ an die eigentlich unverbindlichen Normen. Normen werden damit faktisch in einem stärkeren Ausmaß befolgt, als manche Gesetze.
Gesellschaftspolitische Interessen versus Industrieinteressen
Umso heikler ist vor diesem Hintergrund die Zusammensetzung von Normengremien. Industrieunternehmen mit ausreichenden (personellen) Ressourcen haben immer noch die Möglichkeit die Normung zu dominieren: Gerade auf europäischer Ebene ist eine ausreichende Beteiligung von unabhängigen Experten, die Allgemeininteressen wahren und ihr Wissen kostenlos zur Verfügung stellen, durch großen Arbeitsaufwand und Reisekosten sehr schwierig. Auch wenn es Bemühungen gibt, die umfassende Beteiligung zu stärken, besteht noch viel Nachholbedarf. Daher gilt immer noch oft: Wer das Geld hat, bestimmt die Normung.
„Vordergründig geht es vielen Firmen um die Sicherheit aller. Aber Sie würden ja auch nicht wollen, dass VW die Abgasnormen für Europa schreibt“, warnt Christian Aulinger, Architekt und Präsident der Bundeskammer der Ziviltechniker. „Daher muss sichergestellt werden, dass die Interessen in den Gremien ausgewogen und vor allem transparent sind“, fordert Aulinger des Weiteren. „Die verschiedenen Interessen, die bei Normung aufeinandertreffen, sollen besser sichtbar gemacht werden. Wir fordern eine verpflichtende Offenlegung der Mitgliedslisten der Ausschüsse auch auf Europäischer Ebene“, insistiert Aulinger. „Zudem muss es mehr – auch finanzielle – Unterstützung für die Teilnahme von unabhängigen Experten in der europäischen Normung geben“. Die stärkere Einbeziehung von unabhängigen Experten und die Berücksichtigung sämtlicher gesellschaftspolitischer Interessen muss zukünftig massiv gefördert werden, um dem beschriebenen Demokratiedefizit entgegen zu halten. Das österreichische Normengesetz 2016 war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Mit Kontrollrechten und der Einrichtung eines Normenbeirats gibt es zumindest die Möglichkeit normenpolitischen Fehlentwicklungen zu begegnen.
Veranstaltungshinweis:
Wer macht die Normen? Ein internationaler Vergleich
In der Frühzeit der Normung beschäftigten sich Normen mit rein technischen Fragen, heute greifen sie in nahezu alle Lebensbereiche ein.
Obwohl ihre Anwendung grundsätzlich freiwillig sein sollte, erlangen sie oft direkt durch Verweise in Gesetzen oder indirekt vor allem im Zuge von Rechtsstreitigkeiten Verbindlichkeit. Demokratiepolitisch ist das bedenklich, weil Normierungsprozesse nicht den Anforderungen an Gesetzgebungsverfahren entsprechen. Es stellt sich die Frage, von wem gesellschaftspolitisch höchst relevante Abwägungen im Interesse der Allgemeinheit vorgenommen werden sollten: vom demokratisch legitimierten Parlament, von privatwirtschaftlichen Institutionen oder von Interessensvereinigungen? Wie zeigt sich die Situation im Vergleich zwischen Österreich und Deutschland und kann das „neue“ österreichische Normengesetz diese Situation verbessern?
Gäste:
Christian Aulinger, Präsident der Bundeskammer der ZiviltechnikerInnen
Konrad Lachmayer, Professor für Öffentliches Recht an der Sigmund Freud PrivatUniversität (SFU) in Wien
Martin Müller, Vizepräsident der Bundesarchitektenkammer in Deutschland, BAK
Elisabeth Stampfl Blaha, Direktorin Austrian Standards International
Moderation: Matthias Finkentey, Organisatorischer Leiter, IG Architektur
Datum: 28.02.2018, 19:00 - 21:00 Uhr
Ort: Architekturzentrum
Museumsplatz 1, 1070 Wien, Österreich
Rückfragen & Kontakt
Christine Lohwasser
Öffentlichkeitsarbeit
Bundeskammer der ZiviltechnikerInnen
+43 699 106 22 403
christine.lohwasser@arching.at
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