• 02.09.2016, 08:43:53
  • /
  • OTS0006 OTW0006

Genetische Ursache einer schweren Nervenschädigung bei älteren Erwachsenen mit Gehunfähigkeit entschlüsselt

Wien (OTS) - Angeborene Genmutationen führen dazu, dass Betroffene in
höherem Lebensalter eine schwere Nervenschädigung (Polyneuropathie)
mit Lähmungen, Gefühlsstörungen und Schmerzen entwickeln. Die
Erkrankung kann rasch fortschreiten und bis hin zur Gehunfähigkeit
mit Rollstuhlabhängigkeit führen. Das betroffene Gen wurde nun von
einem internationalen Forscherteam unter Führung der Medizinischen
Universität Wien und der Universität München identifiziert.

„Die Genmutation führt zu einem Enzymmangel, der wahrscheinlich die
Nervenschädigung auslöst. Der Ausgleich der verminderten
Enzymaktivität könnte in Zukunft einen neuartigen Therapieansatz
darstellen, durch den die Erkrankung gestoppt werden könnte“, sagt
Michaela Auer-Grumbach von der Universitätsklinik für Orthopädie der
MedUni Wien. Eine Polyneuropathie kommt bei 2-3 Prozent der
Bevölkerung und bei 7 Prozent der über 65-Jährigen vor, die Ursache
bleibt derzeit noch in bis zu 50 Prozent der Betroffenen unklar, und
es steht für diese PatientInnengruppe bisher keine kausale Therapie
zur Verfügung.

Ausgangspunkt dieser Entdeckung waren drei nicht miteinander
verwandte österreichische Familien, in denen mehrere
Familienmitglieder zwischen dem 55. und 80. Lebensjahr zunächst
Gefühlsstörungen und Missempfindungen in den Zehen bemerkten, die
sich innerhalb weniger Monate bis Jahre bis hin zu den Knien
ausbreiteten. Hinzu kamen oft Schmerzen und auch eine relativ rasch
fortschreitende Muskelschwäche beim Anheben der Zehen und Füße.
Auer-Grumbach: „Nach einigen Jahren war freies Gehen oft nicht mehr
möglich.“ Trotz umfassender Untersuchungen konnte die Ursache
zunächst nicht geklärt werden.

„Einige PatientInnen wurden wegen der raschen Verschlechterung der
Symptome zunächst mit ungeeigneten Medikamenten behandelt, die keine
Besserung, aber oft erhebliche Nebenwirkungen hervorriefen. Aufgrund
des schlechten Ansprechens auf entzündungshemmende Medikamente, aber
auch wegen der familiären Häufung der Polyneuropathie, vermuteten wir
schließlich eine genetische Ursache, auch wenn der späte
Krankheitsbeginn für vererbte Polyneuropathien eher untypisch
erschien. Eine Analyse des gesamten Exoms der PatientInnen, also
aller Abschnitte der Erbsubstanz, die Proteine verschlüsseln, ergab
dann in allen drei Familien eine schwerwiegende genetische Abweichung
im MME-Gen, das für die Bildung des Enzyms Neprilysin verantwortlich
ist “, erläutert die MedUni Wien-Forscherin, die auch Erstautorin und
Leiterin der Studie ist.

Gemeinsam mit Jan Senderek vom Friedrich-Baur-Institut der
Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universität München, dem
auch in Deutschland ähnliche PatientInnen bekannt waren, wurde das
MME-Gen bei weiteren PatientInnen getestet. Nach Einbeziehung
weiterer europäischer und amerikanischer Arbeitsgruppen konnten
Mutationen bei 28 PatientInnen aus 19 Familien identifiziert werden.
Eine weitere Bestätigung dieser Forschungsergebnisse lieferten dann
die Resultate der Messungen des Enzyms Neprilysin im Blut- und
Fettgewebe, die bei PatientInnen signifikant niedriger waren als bei
Kontrollpersonen. Eine zusätzliche Studie aus Japan, die ebenfalls
schwere Polyneuropathien bei völligem Fehlen des Enzyms Neprilysin
beschreibt, bestätigte die Studienergebnisse der Wiener und Münchener
Arbeitsgruppen, die nun in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift
„American Journal of Human Genetics“ veröffentlicht wurden.

Ein Enzymmangel führt zur Entwicklung einer schweren Polyneuropathie
„Die Entdeckung der Ursache dieser Erkrankung ermöglicht die gezielte
genetische Diagnostik und Beratung betroffener PatientInnen und ihrer
Familien und wird zukünftig nicht wirksame, aber durch unerwünschte
Nebenwirkungen belastende Therapien vermeiden“, fasst Michaela
Auer-Grumbach zusammen. „Wenn weitere Studien bestätigen, dass der
Mangel an Neprilysin zur Entstehung der Polyneuropathie führt, gibt
es berechtigte Hoffnung, dass auch bald eine wirksame Therapie
entwickelt werden kann, entweder durch Enzymersatz oder mit
Wirkstoffen, von denen bereits bekannt ist, dass sie den
Neprilysinspiegel erhöhen.

Die Autoren der Studie (die durch ein FWF-Projekt ermöglicht wurde)
planen nun weitere epidemiologische Untersuchungen von PatientInnen
mit unklaren Polyneuropathien, um herauszufinden, ob Mutationen im
MME-Gen auch bei sporadischem (nicht familiär gehäuftem) Auftreten
von Polyneuropathien eine Rolle spielen. „Polyneuropathien ab dem 50.
Lebensjahr sind häufig, aber nur bei ca. 50 Prozent kann derzeit die
Ursache geklärt und eine entsprechende Therapie eingeleitet werden.
Wir hoffen, dass zukünftig ein MME-/Neprilysin-Schnelltest zur
raschen Diagnose führen kann und auch dadurch die Entwicklung einer
Therapie beschleunigt wird“, so Michaela Auer-Grumbach.

Service: American Journal Human Genetics

"Rare variants in MME, encoding metalloprotease neprilysin, are
linked to late-onset autosomal dominant axonal polyneuropathies".
AJHG, 2016, M. Auer-Grumbach, S. Tögel, M. Schabhüttl, D. Weinmann,
C. Chian, D. Bennett, C. Beetz, D. Klein, P. Andersen, I. Böhme, R.
Fink-Puches, M. Gonzalez, M. Harms, W. Motley, M. Reilly, W. Renner,
S. Rudnik-Schöneborn, B. Schlotter-Weigl, A. Themistocleous, J.
Weishaupt, A. Ludloph, T. Wieland, F. Tao, L. Abreu, R. Windhager, M.
Zitzelsberger, T. Strom, T. Walther, S. Scherer, S. Züchner, R.
Martini, J. Senderek.AJHG, Volume 99, Issue 3, 1 September 2016,
Pages 607-623. http://dx.doi.org/10.1016/j.ajhg.2016.07.008.

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | MEU

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel