• 20.08.2015, 14:06:47
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Bloggerin Dariadaria: Offener Brief an das Ministerium für Inneres

Wien (OTS) - Die Bloggerin Dariadaria setzt sich seit Wochen für
Flüchtlinge ein. Sie fährt fast täglich nach Traiskirchen,
organisiert Unterkünfte für Familien und hat sich mit ihnen
angefreundet. Gestern hat sie einen offenen Brief an das
Bundesministerium für Inneres veröffentlicht, den wir euch nicht
vorenthalten wollen.

Sehr geehrte Beamtinnen, sehr geehrte Beamten,

Ich, österreichische Staatsbürgerin, möchte mich mit diesem Schreiben
an Sie wenden, da Sie uns ÖsterreicherInnen am 17. August 2015 um
Hilfe gebeten haben. Sie haben an unsere konstruktiven Kräfte
appelliert, von einem seriösen und sachlichen Dialog gesprochen. Sie
sprachen von Zusammenarbeit.

Ich heiße Madeleine Alizadeh, bin 26 Jahre alt und seit einigen
Wochen fahre ich fast täglich von Wien nach Traiskirchen. Ich kenne
die Menschen dort beim Vornamen, weiß welches Kind welche Süßigkeiten
gerne isst. Ich habe syrische Freunde gefunden, mit denen ich am
Sonntag essen gehe, während sie mir Schnitzel kauend arabische Wörter
beibringen und ich ihnen versuche zu erklären, wieso ich kein Fleisch
esse. Ich whatsappe täglich mit Menschen, die in Zelten schlafen, ich
schicke ihnen Fotos vom Sofa Zuhause, sie schicken mir Selfies aus
dem Zelt. Sobald es zu regnen anfängt, wird mir übel, weil ich weiß,
dass das bedeutet, dass meine Freunde jetzt frieren. Ich erkenne
Telefonstimmen vom Diakonie Wohnservice schon beim Namen, oft
schmunzeln wir, wenn wir zum 4. Mal in Folge an einem Tag
telefonieren und ich "kenne" die Menschen am Telefon schon so gut,
dass ich mich nicht mal mehr schäme, wenn ich vor lauter Verzweiflung
ins Telefon schluchze. Ich übersetze Arabisch mit Google Translate
und ärgere mich einmal mehr, dass mein iranischer Vater nie Farsi mit
mir gesprochen hat, weil ich meine afghanischen Freunde nicht
verstehe. Meine Wohnung ist ein Lager aus Männerschuhen in Größe 40
bis 43 (ja, Syrer haben kleinere Füße als Österreicher),
Schlafsäcken, Trolleys (Flüchtlinge brauchen auch Gepäck) und Dingen,
die ich vorher nicht kannte (Milchpulver für Babies? Was ist das?).
Ich habe meinen Job liegen gelassen, beantworte seit mehreren Wochen
fast keine Mails mehr und widme mich nur mehr der
Flüchtlingsthematik, weil meine Eltern mir beigebracht haben nicht
wegzuschauen wenn jemand in Not ist.

Sie, das Bundesministerium für Inneres, haben sich an mich gewendet.
Ich nehme Ihre Worte ernst, so wie es sich für eine devote und
obrigkeitshörige Bürgerin gehört. Und weil ich Ihr Schreiben vom 17.
August 2015 so ernst genommen habe, habe ich eine Unterkunft
organisiert. Für eine irakische Familie. Eine Familie, deren Haus und
Garten im Irak zerbombt wurde. Eine Familie, die einen Fußmarsch
durch sämtliche osteuropäischen Länder hinter sich hat. Ein Vater,
dessen Bruder erschossen wurde. Eine Mutter, die bereits zwei
Fehlgeburten hinter sich hat. Ein Sohn, dem ein besseres Leben
ermöglicht werden soll. Eine Familie, die in Traiskirchen nach dem
Aufnahmestopp angekommen ist und 3 Tage in einem Bus festgehalten
wurde. Eine Familie, die täglich von der Polizei vor Ort beschimpft
und bedroht wird. Eine Familie, für die ich eine Lösung finden
wollte. Weil Sie uns BürgerInnen um Lösungen gebeten haben.

Diese Familie hat ein Zuhause, das sie nicht beziehen kann. Ein
warmes Bett im Haus einer österreichischen Familie, die sie aufnehmen
würde. Seit Tagen telefoniere ich mehrmals täglich, schreibe E-Mails,
fülle Anträge aus, weine, schreie, fühle mich gelähmt und innerlich
zerstört. Weil ich helfen möchte und nicht kann. Ich bin der
deutschen Sprache mächtig, habe einen Hochschulabschluss, kenne mich
als Selbstständige mit dem österreichischen Bürokratiedschungel ganz
gut aus und bin sehr belastbar. Und trotzdem wird es mir unmöglich
gemacht zu helfen.

Wie Sie bereits geschrieben haben: Pro Woche suchen 1600 Menschen
Schutz in Österreich. Sie schreiben: "In den nächsten Monaten - vor
allem vor Einbruch des Winters - muss alles unternommen werden, um
Obdachlosigkeit zu vermeiden." Sie schreiben auch, dass konstruktive
Bemühungen, Quartiere zu realisieren und damit Menschen ein festes
Dach über den Kopf zu geben, teils auf unterschiedlichen Ebenen auf
Widerstand stoßen.

Den einzigen Widerstand, auf den ich stoße, sind Sie, liebes
Bundesministerium für Inneres.
Als österreichische Staatsbürgerin hatte ich bisher eine ganz gute
Beziehung zu meinem Heimatland. Doch wir stecken in einer
nachhaltigen Beziehungskrise. Es liegt nicht an mir, es liegt an
Ihnen. Ich habe in dieser Beziehung mein Bestes gegeben:
kommuniziert, respektiert, vertraut. Alles was man in einer gut
funktionierenden Beziehung halt so berücksichtigt. Ich versuche mit
allen Mitteln Ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, doch Sie ignorieren
mich und die Hilfe, die ich anbiete.

Familie K. aus dem Irak schläft während ich diese Zeilen schreibe in
einem komplett durchnässten Zelt in der Akademiestraße in
Traiskirchen. 60 km entfernt steht Frau V. in dem Haus, das ich
vermittelt habe, vor einem leeren Zimmer. Die Betten sind frisch
bezogen, drei Handtücher liegen drauf: eines für die Mutter, eines
für den Vater und eines für den Sohn. Jeden Tag schreibe ich Herrn
K.: "Bitte lassen Sie den Kopf nicht hängen. Ich finde eine Lösung."

Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr weiß, ob diese
Lösung tatsächlich existiert. Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich
nicht mehr weiß, ob Souveränität real oder nur ein abstrakter Begriff
ist, den ich mal im Gymnasium aufgeschnappt habe.

Ich bin an dem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr weiß, was ich tun
soll.

Denn ich bin verzweifelt. Weil ich helfen möchte und Sie mich nicht
lassen.

Hochachtungsvoll,
Madeleine Alizadeh

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NEF

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