- 05.05.2015, 14:02:46
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Gedenktag 2015: Rede von Christine Nöstlinger im Parlament
Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Utl.: Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an
die Opfer des Nationalsozialismus =
Wien (PK) - Bei der Gedenkveranstaltung vor dem Hintergrund 70 Jahre
Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen heute im Historischen
Sitzungssaals des Parlaments warnte auch die Schriftstellerin
Christine Nöstlinger vor Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Rede
in vollem Wortlaut:
- es gilt das gesprochene Wort -
Als das Konzentrationslager Mauthausen errichtet wurde, war ich fast
zwei Jahre alt, als die letzten Überlebenden von der US-Armee befreit
wurden, war ich acht Jahre alt. Man könnte also denken, dass in
meinen Erinnerungen an diese Jahre das KZ-Mauthausen kein Thema wäre.
Dem ist aber nicht so.
Das Wort Mauthausen kannte ich zwar nicht, den Ausdruck KZ aber sehr
wohl. Unzählige Male hörte ich ihn, wenn meine Großmutter bei der
Milchfrau oder beim Greißler auf die Nazis schimpfte.
Dann hieß es, warnend geflüstert, entweder "Redens ihnen nicht um
ihren Kopf" oder "Sie reden Ihnen noch ins KZ rein!"
Und fest eingeprägt hat sich bei mir die Erinnerung daran: Mein
Onkel, der "kleine Bruder" meiner Mutter ist zu Besuch. Er steht,
groß und breit, in SS-Uniform neben meiner kleinen Mutter und sagt:
"Ella, die Juden gehen alle durch den Rauchfang!"
Und meine kleine Mutter bekommt ihr rotes Zorngesicht und gibt ihrem
großen, kleinen Bruder eine Ohrfeige. Ich glaube, das war die einzige
Ohrfeige, die meine friedliebende Mutter jemandem gegeben hat.
Was "durch den Rauchfang gehen" zu bedeuten hat, war mir natürlich
nicht klar, nur, dass es etwas schrecklich Böses sein musste. Und von
dem Tag an war mir auch klar, dass der Herr Fischl durch den
Rauchfang gegangen ist.
Der Herr Fischl hatte bei uns in der Gasse eine Schusterwerkstatt
gehabt, hatte Schuhe gedoppelt, neue Absätze gemacht und bei Schuhen
die Kappen "vorgeschoben", damals unter armen Leuten eine billige
Lösung für schnell wachsende Kinderfüße.
Im Jahr 1938, kurz nach dem "Anschluss", sah meine Mutter, von der
Arbeit heim gehend, eine grausige Szene: SA-Männer hatten den Herrn
Fischl aus dem Laden geholt und zwangen ihn, mit einer Zahnbürste
drei weißen Pfeile, die Regime-Gegner aufs Pflaster gepinselt hatten,
weg zu schrubben. Auf der Straße parkte ein LKW mit grinsenden SA-
Männern auf der Ladefläche. Und um den knienden Herrn Fischl rum,
standen Nachbarn und schauten belustigt zu.
Meine Mutter ging klopfenden Herzens auf der gegenüber liegenden
Straßenseite vorbei. Später hörte sie, dass der Herr Fischl
schließlich mit dem LKW abtransportiert worden war.
Ein paar Tage danach übernahm ein "arischer" Schuster Werkstatt und
Wohnung vom Herrn Fischl. Und vom Herrn Fischl redete niemand mehr.
Außer meiner Mutter! Sie erzählte mir und meiner Schwester immer
wieder, was dem Herrn Fischl angetan worden war. Sie kam nicht damit
zurecht, dass sie nicht eingegriffen hatte, und rechtfertigte sich
jedes Mal vor sich selbst mit der Erklärung: "Hätt ich euch Kinder
nicht daheim gehabt, wär ich rüber und hätt die Bagage vertrieben!"
In dem Alter, in dem ich damals war, muss man seine Mutter, noch
dazu, wenn der Vater schon lange weit weg in Russland ist, für groß
und stark, also für mächtig halten. Und dass sich Erwachsene manchmal
selbst belügen, wusste ich noch nicht. Also war ich der Überzeugung,
meine Mutter hätte den Herrn Fischl gerettet, hätte es mich nicht
gegeben, und da ich auf meine Frage, wohin denn der Herr Fischl
gebracht worden war, die karge Antwort "Na, ins KZ" erhielt, glaubte
ich, am Tod des Herrn Fischl schuld zu sein.
Das unsinnige Schuldgefühl schwand erst, als ich merkte, dass meine
Mutter weder stark noch mächtig, sondern klein und ziemlich hilflos
war und gegen "die Bagage" nichts ausgerichtet hätte.
Frei von Schuld zu sein, heißt aber nicht, frei von Verantwortung zu
sein!
Viele Menschen sind dieser Verantwortung gerecht geworden und haben
als "Zeitzeugen" den nachfolgenden Generationen zu erzählen versucht,
wohin Rassismus geführt hat, oder sich laut zu Wort gemeldet, wenn
wieder gegen Minderheiten Stimmung gemacht wurde.
Leicht gemacht hat man ihnen das nicht immer. Vielen waren sie
einfach zu unbequem. Sie störten beim Vergessen, beim Behaupten,
völlig ahnungslos gewesen zu sein, beim Beklagen dessen, was man
selbst im Krieg erlitten und verloren hatte, und vor allem beim
selbstzufriedenen "Neuanfang".
Im Interesse dieses "Neuanfangs" waren unsere Nachkriegsregierungen
auch nicht besonders emsig bemüht, Täter der NS-Zeit zu verfolgen. Es
waren -nüchtern betrachtet- einfach viel zu viele, um ohne sie einen
funktionierenden Staat zu machen. Woher hätte man etwa nach
Kriegsende auch ausreichend "unbelastete" Lehrer und Beamte nehmen
sollen?
Auch die Anstrengungen, Juden und Antifaschisten, denen die Flucht
ins Ausland geglückt war, heim zu holen, waren karg. Und zu
überlegen, wie man Roma und Sinti, die überlebt hatten, besser
integrieren könnte, war schon gar kein Anliegen.
Meine Generation und die meiner Kinder wurden also in einem Land
groß, in dem Rassismus keineswegs bloß eine schlimme Erinnerung war,
sondern nach wie vor Gesinnung sehr vieler, tradiert vor allem in den
Familien.
Zum Positiven verändert hat sich da bis heute nicht allzu viel.
Allerdings kommt nun Rassismus in einem anderen Mäntelchen daher.
Begriffe wie Herrenrasse, Untermensch, Rassenschande und Endlösung,
wagt niemand mehr zu sagen, und kaum wer zu denken. Da gibt es ein
Tabu!
Heutiger Rassismus lehnt schlicht "alles Fremde" ab, sieht das eigene
Volk durch "Überfremdung" in Gefahr, wittert sogar "Bevorzugung der
Ausländer", und meint - alles in allem: "Die wollen von uns leben,
die wollen uns etwas wegnehmen!"
Wer so denkt, und unter gleich Gesinnten auch so redet, schmiert noch
lange keine rassistischen Parolen, wirft keine jüdischen Grabsteine
um, beschimpft keine Frauen, die Kopftuch tragen, verprügelt keinen
Schwarzen und zündet kein Asylantenheim an. Aber den Menschen, die es
tun, geben sie die Sicherheit, auch in ihrem Interesse zu agieren.
Sie sind der Nährboden, aus dem Gewalt wächst.
Und die Auswahl an Minderheiten, gegen die man - im besten Fall -
"etwas hat", - im schlimmsten Fall - "etwas unternimmt" hat sich
enorm gemehrt. Zu den tradierten Objekten für Ablehnung und
Aggression kamen hinzu: Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge, ganz
gleich woher sie kommen und Menschen mit Migrationshintergrund, ganz
gleich, ob sie bereits österreichische Staatsbürger sind oder nicht.
Und Menschen mit anderer Hautfarbe sowieso.
Allerdings schützt heute, im Gegensatz zum Rassismus der NS-Zeit,
totale Assimilation vor Anfeindung. Und die große Mehrheit im Lande -
fürchte ich- meint Assimilation, wenn sie "mehr Integration" fordert.
Man will sich das Fremde und Unbekannte nicht vertraut machen,
sondern wünscht sich die Anpassung der Zugezogenen an die hierorts
übliche Lebensweise; was aber in den seltensten Fällen passiert.
Also ergeben sich Probleme beim Zusammenleben mit Menschen aus
fremden Kulturen.
Darauf zu warten, dass diese Probleme mit der Zeit kleiner werden,
durch zunehmende Toleranz der Alteingesessenen und zunehmende
Anpassung der Zugezogenen, war sichtlich lange Zeit ein Rezept vieler
unserer Politiker. Oft hat dieses Rezept tatsächlich gewirkt, aber
zumindest genauso oft hat es versagt.
Was versäumt wurde, müssen wir jetzt nachholen. Kindergartenpflicht
und Ganztags- Schulen etwa. Dazu Kindergarten-Pädagoginnen, die dazu
wirklich ausgebildet sind, Kindern mit einer anderen Muttersprache so
gut Deutsch zu lehren, dass sie, in die Schule gekommen, annähernd
die gleiche Sprachkompetenz und somit auch annähernd die gleichen
Chancen auf Bildung haben. Nur so verhindert man das Entstehen von
Parallelgesellschaften auf Unterschichtsniveau.
Und ebenso ist bessere Bildung das einzige brauchbare Mittel zur
Aufweichung von hart verkrusteten rassistischen Vorurteilen in der
hiesigen Mehrheitsbevölkerung.
Denn: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Auch den größten Unsinn
und die schamlosesten Verdrehungen.
Wobei allerdings die Frage bleibt, warum so viele Menschen lieber den
Rassisten glauben, als denen, die sagen, dass friedliches
Nebeneinander, wenn schon nicht Miteinander, möglich sei.
Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben
Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine
Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab
Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem wie sie gepflegt und gehegt
wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell
auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von
denen es dann betreten wieder einmal heißt: "Das hat doch niemand
gewollt!" (Schluss) red
HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie im Fotoalbum auf
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