Wiener Zeitung – Leitartikel von Thomas Seifert: „Ein neuer Wiener Kongress“
Ausgabe vom 2. Jänner 2015
Wien (OTS) - Es sei nur natürlich, schrieb der Geopolitiker Henry Kissinger, dass man in einer "Periode, in der es gilt, angstvoll den Frieden vor der Bedrohung durch die nukleare Auslöschung zu retten", voller Nostalgie auf den letzten großen Versuch, internationalen Streit durch eine Konferenz der Diplomaten zu lösen, blickt. Sein Artikel "Der Wiener Kongress - eine Neubewertung" erschien im Jahr 1956, als der Kalte Krieg in vollem Gang war.
Die Bedrohung der atomaren Auslöschung ist zwar seither geringer geworden, die Gefahr eines nuklearen Holocaust ist einer Bedrohung durch eine größere Anzahl von Atommächten gewichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit die Detonation einer Atombombe erleben muss, ist aber heute vielleicht sogar größer als am Höhepunkt des Kalten Krieges.
Kein Wunder, dass die Wiener-Kongress-Nostalgie heute genauso aktuell ist wie 1956, als Kissinger mit seiner Promotionsschrift Aufmerksamkeit erregte.
Österreich erinnert heuer, 200 Jahre danach, auf charmante Weise an den Wiener Kongress: Rund um den Jahrestag des Endes des Wiener Kongresses am 9. Juni kommen 150 Jugendliche aus ganz Europa zu einem Kongress der europäischen Jugend zusammen. Ein feines Symbol: Nicht die alten Machteliten, sondern junge Europäer sollen in Wien zusammentreffen. Es geht nicht, wie beim Wiener Kongress vor 200 Jahren, um ein restauratives Projekt der europäischen Königshäuser zur Bewahrung der durch die Französische Revolution und Napoleon bedrohten Welt der Monarchen, sondern darum, wie man ein Europa der Bürger weiterdenken kann. Doch leider gibt niemand den Kindern das Kommando, und auf eine Neuordnung der Welt durch die Erwachsenen in einem "Wiener Kongress II" zu hoffen, ist unrealistisch: Konferenzen wie der Wiener Kongress tagen nach großen Kriegen und epochalen Verwerfungen, nicht davor.
Umso erfreulicher wäre es, wenn 2015 das Kunststück gelänge, den Blick für die brüchig gewordene Konstruktion globaler Diplomatie zu schärfen und über eine Reform der globalen Steuerungssysteme nachzudenken: Ein Sicherheitsrat ohne Länder wie Indien oder Brasilien hat heute ebenso wenig Legitimität wie ein internationaler Währungsfonds, der nur die Interessen der Gläubiger im Auge hat. Ein Wiener Reformkongress des internationalen Steuerungssystems wäre hoch an der Zeit.
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