- 13.05.2014, 13:59:02
- /
- OTS0196 OTW0196
Selbstbestimmung statt Entmündigung: IVS Wien und VertretungsNetz fordern Alternativen zur Sachwalterschaft
Gemeinsame Tagung in Wien mit 150 Teilnehmer/innen und internationalen Top-Referenten
Utl.: Gemeinsame Tagung in Wien mit 150 Teilnehmer/innen und
internationalen Top-Referenten =
Wien (OTS) - Im Rahmen eines heutigen Pressegesprächs in Wien
präsentierte die "Interessensvertretung sozialer
Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit Behinderung", kurz IVS
Wien, gemeinsam mit dem Sachwalterschaftsverein VertretungsNetz die
Ergebnisse einer gemeinsamen Fachtagung in Wien am 12. Mai 2014.
Marion Ondricek, Vorstand IVS Wien, und Franziska Tuppa, Leiterin des
Fachbereichs Sachwalterschaft bei VertretungsNetz, betonten, dass
auch Menschen mit intellektueller Behinderung oder psychischen
Erkrankungen ein Recht auf Selbstbestimmung haben.
Menschenrechtsexperte Michael Bach, Präsident der "Canadian
Organisation for Community Living", CACL, zeigte, wie unterstützte
Entscheidungsfindung an Stelle einer Sachwalterschaft in Kanada
funktioniert und was Österreich daraus lernen kann. Mehr Infos:
www.ivs-wien.at
150 Entscheidungsträger/innen aus Politik, Wirtschaft und
Sozialwirtschaft entwickeln bei Tagung neue Perspektiven
"Ich entscheide selbst" - Alternativen zur Sachwalterschaft: Unter
diesem Motto diskutierten am Montag, dem 12. Mai 2014, 150
Entscheidungsträger/innen aus Politik, Wirtschaft und
Sozialwirtschaft im Kardinal-König-Haus in 1130 Wien über ein
sensibles Thema, das immer wieder für Zündstoff sorgt. Vor Ort waren
unter anderem Sektionschef Georg Kathrein, Bundesministerium für
Justiz, Martin Ladstätter (Bizeps und Monitoringausschuss), Hartwig
Frank und Christine Horn von der Bank Austria, Gerhard Ruprecht,
Social Banking Erste Bank, Vertreter politischer Parteien, zahlreiche
Rechtsanwält/innen, Mitarbeiter/innen des Instituts für Rechts- und
Kriminalsoziologie Wien und Vertreter/innen des Fonds Soziales Wien
sowie deutscher und österreichischer Sachwaltervereine und sozialer
Dienstleistungsanbieter. Anhand internationaler Erfolgsmodelle wurden
neue Perspektiven für Österreich entwickelt. Top-Referenten waren
Michael Bach aus Kanada, international anerkannter
Menschenrechts-Experte, Soziologe und Präsident von CACL, einer
kanadischen Organisation mit 40.000 Mitgliedern, die sich für die
Inklusion von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung einsetzt,
sowie Maths Jesperson aus Schweden, Initiator und Vorstandsmitglied
von PO-Skane, einem professionellen Service mit persönlichen
Ombudsstellen für Menschen mit schweren psychosozialen Behinderungen.
Jesperson fand als ehemaliger Psychiatrie-Insasse den Weg zurück in
die Selbstbestimmung und ist Gründungsmitglied des Europäischen
Netzwerks von (Ex-)Nutzern und Überlebenden der Psychiatrie (ENUSP).
IVS übt Kritik: Durch Sachwalterschaft werden Menschen
fremdbestimmt
"Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen haben, so
wie alle Menschen, vielfältige Bedürfnisse und Vorstellungen, wie sie
ihr Leben gestalten möchten. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die
2008 in Kraft trat, verpflichtet Österreich dazu, alle Maßnahmen zu
treffen, damit Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben
führen können. Mit Sachwalterschaften werden diese Menschen jedoch
fremdbestimmt. Gesellschaft und Politik sind gefordert, hier ein
System zu schaffen, das weg geht von der Entmündigung von Menschen
hin zur Unterstützung, eigene Entscheidungen zu treffen", so Marion
Ondricek, Vorstand IVS Wien.
Ein Skandal: 55% aller Sachwalterschaften "für alle
Angelegenheiten" ausgesprochen
Die Zahl der von Sachwalterschaft Betroffenen steigt seit Jahren
und hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre in Österreich nahezu
verdoppelt - von 34.000 Betroffenen im Jahr 2004 auf 60.000
Betroffene heute. Dies ist ein gravierendes menschenrechtliches
Problem. "Sachwalterschaft sollte das letzte Mittel sein, wird aber
oft vorschnell unreflektiert eingesetzt. Insbesondere die Tatsache,
dass 55% aller Sachwalterschaften 'für alle Angelegenheiten'
ausgesprochen werden, ist in meinen Augen ein Skandal", sagt
Franziska Tuppa, Leiterin des Fachbereichs Sachwalterschaft bei
VertretungsNetz.
Von ständiger Sachwalterschaft betroffen sind dabei keineswegs nur
Ältere - 45% der Betroffenen sind jünger als 59 Jahre.
VertretungsNetz fordert die ersatzlose Streichung der
Sachwalterschaft für alle Angelegenheiten, eine Befristung von
Sachwalterschaften auf maximal drei Jahre, um danach neuerlich die
Notwendigkeit zu prüfen, sowie ein "verpflichtendes Clearing".
"Unterstütze Entscheidungsfindung" als Alternative zur
Sachwalterschaft
Weltweit gibt es unterschiedliche Modelle der "unterstützen
Entscheidungsfindung". Allen gemeinsam ist, dass die rechtliche
Handlungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit der Person mit
Unterstützungsbedarf nicht beeinträchtigt wird. Weiters kann die oder
der Betroffene die Unterstützungsbeziehung jederzeit beenden. Der
Willen bzw. die Intention der betroffenen Person muss bestmöglich
ermittelt und beachtet werden und ist die Basis für eine informierte
Entscheidung.
Österreichisches Modellprojekt "Clearing Plus - Unterstützung
zur Selbstbestimmung"
Ausgehend von der UN-Behindertenrechtskonvention wird auch in
Österreich versucht, zunehmend Sachwalterschaften durch Modelle
"unterstützter Entscheidungsfindung" zu ersetzen. VertretungsNetz hat
dazu das Konzept "Clearing Plus - Unterstützung zur Selbstbestimmung"
erarbeitet. Das im März 2014 gestartete Projekt wurde vom
Bundesministerium für Justiz unter dem Titel "Unterstützung zur
Selbstbestimmung" vorgestellt. An 20 Gerichtsstandorten in Österreich
wird nun von den Gerichten vor einer Sachwalterbestellung an die
Clearingstelle verwiesen, um einzuschätzen, ob eine Sachwalterschaft,
etwa durch Unterstützung durch Angehörige oder Sozialeinrichtungen,
vermieden werden kann. Im Rahmen von Clearing Plus werden dann
Betroffene über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Indem auf
die persönlichen Stärken fokussiert und das soziale Umfeld aktiviert
wird, können maßgeschneiderte Lösungen für Betroffene entwickelt und
gefunden werden. Die Ergebnisse des Projektes sollen bei einer Reform
des Sachwalterrechts ab 2016 berücksichtigt werden.
Bewusstseinswandel nötig
Die Verwirklichung von unterstützter Entscheidungsfindung
erfordere jedenfalls eine gesamtgesellschaftliche Veränderung, da es
noch an Problembewusstsein, insbesondere auch bei den politisch
Verantwortlichen, fehle, so Ondricek. Auch Bach spricht von der
Herausforderung, eine "vision for change" zu erschaffen, um die
bestehenden Systeme strategisch so zu verändern, dass Menschen mit
Behinderung ihren rechtmäßigen Platz als vollwertige Bürgerinnen und
Bürger in der Gesellschaft einnehmen können.
Die UN Behindertenrechtskonvention
Die UN-Konvention ist ein internationaler Vertrag, in dem sich die
Unterzeichnerstaaten - darunter Österreich - verpflichten, die
Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen
und zu gewährleisten. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in
Österreich seit 26. Oktober 2008 in Kraft. Sowohl die Gesetzgebung
als auch die Verwaltung und die Rechtsprechung müssen die Konvention
beachten.
Über IVS Wien und VertretungsNetz
Die IVS Wien wurde im Mai 2011 gegründet und ist eine politisch
unabhängige Dialogplattform, deren 17 Wiener Mitgliedsorganisationen
täglich rund 4000 Personen mit Beeinträchtigungen begleiten und
betreuen. Mitglieder sind Assist GmbH, Auftakt GmbH, BALANCE, Das
Band, Caritas Wien, Diakoniewerk, GIN, HABIT GmbH, Humanisierte
Arbeitsplätze, ITA GmbH, KoMIT GmbH, Lebenshilfe Wien, LOK, ÖHTB,
ÖVSE - SHT, Rainmans Home und die Sozialtherapeutische Lebens- und
Arbeitsgemeinschaft.
VertretungsNetz wurde im Jahr 1980 gegründet. Die Aufgaben des
Vereines mit Sitz in Wien umfassen Sachwalterschaft,
Patientenanwaltschaft und Bewohnervertretung. VertretungsNetz
betreibt Büros in allen Bundesländern (außer in Vorarlberg), ist
überparteilich, gemeinnützig und nicht auf Gewinn ausgerichtet.
OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | COM