"Kleine Zeitung"-Kommentar: "Befreit das Parlament!" (Von Hubert Patterer)
Ausgabe vom: 3.6.2012
Graz (OTS) - Bevor wir sie übereilt verschweizern, sollten wir unsere Demokratie erst einmal entkarsten.
Die Parteien entdecken eifernd die Liebe zum Volk. Die Stimmbürger sollen wieder mehr begehren und mitreden dürfen. Die Parteien hoffen damit, den Graben, der sich zwischen ihnen und den Menschen aufgetan hat, schließen zu können. Es ist ein hastig verschriebenes Rezept, das mehr von der eigenen Not erzählt, die Gefahr von Nebenwirkungen birgt und das auf einem falschen Befund aufsetzt.
Die Demokratie in Österreich krankt nämlich nicht, wie die schrille Debatte suggeriert, an einem Mangel an Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Teilhabe. Volksbegehren, Volksbefragung, Volksabstimmung: Der plebiszitäre Werkzeugkasten ist hinreichend vorhanden. Die Instrumente verdienen nur mehr Achtung in der parlamentarischen Behandlung. Da hätten die Parteien ein Exerzierfeld für ihre Liebe. Auch hindert sie niemand daran, das Volk öfter als nur alle paar Dekaden über Gesetzesvorlagen abstimmen zu lassen. Mehr als Zwentendorf und EU war da nicht seit dem Krieg.
Daran kann und soll man feilen. Um die Bürger mit der Politik nachhaltig zu versöhnen, wird man sich den Schwächen der repräsentativen Demokratie zuwenden müssen. Sie sind es, die an den Wurzelgrund von Politikverdrossenheit und Frustration führen. Das Modell an sich ist vornehm. Das Volk wählt befristet Bürger, die es für befähigt hält, im gesetzgebenden Forum eines Parlaments komplexe politische Sachentscheidungen zu fällen. Man kann ja als Bürger nicht politisch dauererregt sein.
In der Praxis wählen aber Parteien diese Köpfe, und zwar dergestalt, dass das gefügige Mittelmaß erstgereiht ist. Die Bürger können auch keine Regierung wählen, weil das die Parteien nach der Wahl im Separee auspackeln. Auch das Wesen jeder vitalen Demokratie, eine unfähige Regierungsformation abwählen zu können, ist durch träge Anomalien erschwert. In den 80er und 90er Jahren konnte man wählen, wie man wollte: Es kam stets eine Große Koalition heraus, ein Bündnis für Notzeiten.
Es wäre also klüger, zunächst die Verkarstungen des Systems der Volksvertretung zu beseitigen, anstatt es plebiszitär zu behübschen, Eine Stimmungsdemokratie, orchestriert vom Wiener Boulevard, kann sich niemand wünschen wollen. Anzustreben wäre ein Wahlrecht, das Persönlichkeiten fördert; eines, das leichter Mehrheiten ermöglicht und entmöglicht. Es ginge um ein in seinem Selbstwert gestärktes Parlament, das sich nicht zu Abstimm-Adjutanten der Regierung erniedrigen lässt. Und um Parteien, die sich radikal öffnen. Das wäre Verlebendigung von Demokratie. Erst dann kann man die Bürger behutsam verschweizern. ****
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