• 19.02.2012, 19:43:37
  • /
  • OTS0046 OTW0046

"Kleine Zeitung"-Kommentar: "Das gefährliche Spiel mit dem Vorurteil" (Von Stefan Winkler)

Ausgabe vom 20.2.2012

Graz (OTS) - Wie die Krise in Europa alte Feindbilder
wiederbelebt.

Der Deutsche säuft, der Spanier ist hochmütig, der Italiener lüstern
und der Grieche faul. So steht es auf der berühmten steirischen
Völkertafel, einem Ölgemälde aus dem frühen 18. Jahrhundert, auf dem
zehn europäische Völker und die ihnen zugeschriebenen Wesenszüge
dargestellt sind.
Wir mögen diese Klischees heute milde belächeln. Aber zu
Überheblichkeit besteht kein Anlass. In der europäischen
Schuldenkrise treiben die nationalistischen Zerrbilder gerade wieder
bizarre Blüten. Plötzlich ist von den betrügerischen Griechen die
Rede, von den verschrobenen Briten und von den rechthaberischen
Deutschen.
Es ist wie mit einer vergessenen Altlast, die jäh ans Tageslicht
kommt: Im Nervenkrieg, der um das zweite Hilfspaket für Griechenland
tobt, machen Politik und Medien in Hellas seit Wochen mit stupiden
Nazi-Vergleichen Stimmung gegen Deutschland und das von Berlin
angeblich angestrebte „Vierte Reich“. Zeitungen bringen
Montagen von Kanzlerin Angela Merkel in SS-Uniform und das greise
Staatsoberhaupt Karolos Papoulias schimpft, er lasse sein Land nicht
von einem Herrn Schäuble beleidigen.
Natürlich kann man sich fragen, ob es klug ist, wenn der deutsche
Finanzminister offen die Vertrauenswürdigkeit der griechischen
Parteien bezweifelt. Aber die Kritik gilt ja nicht dem Land, sondern
seinen Politikern, die es über die Jahrzehnte systematisch ruiniert
haben.
Damit ist auch schon die größte Schwierigkeit benannt, mit der die
Euro-Retter kämpfen. Sie versuchen, einen Staat vor dem Untergang zu
bewahren, den es eigentlich nicht gibt.
Das kaputte hellenische Gemeinwesen von Grund neu aufzubauen, wird
lange dauern und Griechenland wird dafür Teile seiner Souveränität
abgeben müssen. Das ist bitter.
Doch anstatt sich ins Unvermeidliche zu fügen und Hellas im
parteiübergreifenden Konsens neu zu erfinden, spielen seine Politiker
auf der Klaviatur des Vorurteils und der kollektiven Demütigung, die
viele verarmte Griechen empfinden.
Es ist ein gefährliches Spiel. Europa befindet sich im
Ausnahmezustand, die Spannungen zwischen Nord und Süd, Arm und Reich,
Groß und Klein, Euro und Nicht-Euro nehmen zu.
Einmal mehr zeigt sich, dass das Material, aus dem die EU geformt
ist, ihre Mitgliedstaaten sind und nicht irgendwelche Technokraten in
Brüssel. Und Deutschland ist das größte und mächtigste Land der
Union. Die Führungsrolle, die Kanzlerin Merkel in der Krise
widerstrebend übernommen hat, missfällt vielen. Von einem
europäischen Wir-Gefühl sind wir weiter denn je entfernt. ****

Rückfragehinweis:
Kleine Zeitung, Redaktionssekretariat, Tel.: 0316/875-4032, 4033, 4035, 4047, mailto:redaktion@kleinezeitung.at, http://www.kleinezeitung.at

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | PKZ

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel