- 01.12.2011, 10:00:39
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ELGA: Teure Daten - medizinisch wertlos
Was PatientInnen und ÄrztInnen wirklich brauchen
Wien (OTS) - Während die Bundesgesundheitskommission den
einstimmigen Beschluss zum Ausbau der elektronischen Gesundheitsakte
(ELGA) feiert, formieren sich die HausärztInnen zu einer
geschlossenen Front gegen ELGA. Die digitale Datensammlung ist
medizinisch wertlos und behindert die ärztliche Versorgung der
Bevölkerung.
Mit ihrem "Nein" zu ELGA hat sich die österreichische Ärzteschaft
zumindest bei den ELGA-Befürwortern das Image der
Fortschritts-Verweigerer eingehandelt. In der Öffentlichkeit wird
versucht, das Thema auf ein Datenschutz-Problem zu reduzieren, das
einfach durch entsprechende Software und Gesetze zu bereinigen wäre.
- Dem ist nicht so.
Es wird so getan, als hätten die Ärzte/innen ohne ELGA keine
Ahnung über den Gesundheitszustand ihrer Patienten. In Wirklichkeit
gibt es seit Jahren ein gut funktionierendes System "MedicalNet",
über das der behandelnde Arzt/Ärztin aktuelle Befunde eines Patienten
schnell abrufen kann. Dieses System ist eine so genannte "gerichtete
Datenübertragung". Die Daten können ausschließlich vom behandelnden
Arzt mittels eines einmaligen Codes abgerufen werden. In diesem
System sind beispielsweise alle Labors, Radiologen, aber auch
Spitäler wie z.B. das SMZ Ost eingebunden. Eine Erweiterung wäre
(fast) ohne Aufwand möglich, allerdings gibt es in vielen Spitälern
nicht einmal intern funktionierende Strukturen. Im Gegensatz dazu ist
das System ELGA eine "ungerichtete Datenübertragung". Das heißt: Eine
Vielzahl von Personen hat Zugriff auf die Daten. Das ist ein Thema
des Datenschutzes.
Aus medizinischer Sicht stellt sich ein anderes Problem.
Angesichts der nicht überschaubaren Menge an Zugriffsberechtigten im
System ELGA wird den Patienten freigestellt, welche ihrer Befunde
abrufbar sein sollen. Damit werden die Daten für Ärzte/innen
irrelevant. Es bringt gar nichts, wenn ein/e behandelnde/r
Arzt/Ärztin einen jahrelang zurückliegenden Befund einer
Lungenentzündung aufstöbert, aber keine Information über die
HIV-Infektion des Patienten erhält, weil er diese nicht vermerkt
haben will. Nach Ansicht der Hausärzte/innen kann man sich an drei
Fingern ausrechnen, dass vor allem Risikogruppen wie HIV-Infizierte,
Drogenabhängige, aber auch chronisch Kranke, die auf Jobsuche sind ,
Versicherungen abschließen wollen oder um Kredite ansuchen, die
Einsicht in ihre relevanten Befunde untersagen werden.
"Machen wir uns nichts vor", bringt es der Präsident des ÖHV Wien
auf den Punkt, "ein Patientenakt ist ein Akt über den Patienten und
nicht von dem Patienten. Alles andere ist medizinisch wertlos". Und
in einem Patientenakt werden grundsätzlich nur negative Dinge stehen:
Wann er krank war, welche Krankheit er hat, seit wann er wie viele
und welche Medikamente einnimmt, etc.
Speziell die Medikamenteneinnahme ist nach den Erfahrungen der
Hausärzte(innen) ein heikles Thema. Auch wenn in den Befunden eine
genaue Auflistung der verordneten Medikamente steht, heißt das noch
lange nicht, dass sie auch eingenommen werden. Auf Nachfragen von
Hausärzten/innen gestehen viele Patienten, dass sie es mit der
Einnahme nicht so genau nehmen und oft verordnete Medikamente gar
nicht einnehmen, weil sie sich z.B. vor möglichen Nebenwirkungen laut
Beipacktext fürchten.
Das Märchen von den Doppelbefundungen
Immer wieder wird von ELGA-Befürwortern argumentiert, dass sich
mit diesem System eine Unzahl von Doppelbefundungen verhindern und
damit erhebliche Kosten im Gesundheitswesen einsparen lassen. Der
gravierende Schönheitsfehler an dieser Behauptung: Es gibt keine
verlässlichen Daten über Art und Anzahl der angeblichen
Doppelbefundungen. Die einzige aktuelle Studie zu diesem Thema stammt
von der Fachgruppe Radiologie. Das Ergebnis: Insgesamt waren rund
zehn Prozent der radiologischen Untersuchungen verdächtig,
Doppelbefunde zu sein (z.B. zwei gleiche Röntgenaufnahmen bei einem
Patienten innerhalb von zwei Wochen). Eine genauere Betrachtung
zeigte, dass 90 Prozent der verdächtigen Untersuchungen notwendige
Kontrolluntersuchungen waren. Der Anteil "echter" Doppelbefunde war
unterm Strich mit einem Prozent marginal. "Selbst wenn alle diese
Doppelbefunde vermieden werden könnten, was in der Praxis nicht der
Fall sein wird, würde das System ELGA wesentlich mehr kosten als es
an Einsparungen bringt", so der Wiener ÖHV-Präsident Werner.
Wie funktioniert ELGA in der Praxis
Die stereotyp verheißenen Wunderwirkungen von ELGA klingen gut:
Auf Knopfdruck hat jede/r Arzt/Ärztin alle Befunde, verordnete
Medikamente und Therapien eines Patienten auf dem Tisch, kann sich
und dem Patienten damit einige Untersuchungen ersparen und braucht
nur mehr die optimale Behandlung durchführen. Und niemand sonst
erfährt davon, wenn es der Patient nicht will.
Die Praxis sieht freilich anders aus. ELGA wird den Patienten
Behandlungszeit stehlen. Selbst wenn die Abfrage von Befunden über
ELGA nur eine Minute pro Patient in Anspruch nimmt, bedeutet das in
einer Praxis eines/r Allgemeinmediziners/in bei durchschnittlich 100
Patienten pro Tag einen Mehraufwand von 11/2 bis 2 Stunden, der
zwangsweise zu Lasten der Zeit für Patienten aufgeht.
Die Hausärzte/innen können es sich nicht leisten, Hunderttausende
Befunde ihrer Patienten nicht zu durchstöbern. Denn in einem System
wie ELGA kann man theoretisch alles finden. Übersieht ein/e
Arzt/Ärztin möglicherweise eine vor vielen Jahren einmal festgestellt
Allergie und es treten daher Nebenwirkungen eines verordneten
Medikamentes auf, wird mit Sicherheit der/die Arzt/Ärztin haftbar
gemacht. - Er/sie hätte es ja theoretisch dank ELGA wissen müssen.
Um sich eine Vorstellung von dem Aufwand zu machen: Allein in
Österreich werden pro Jahr rund 100 Millionen Befunde erstellt. Diese
müssen nicht nur in das System ELGA eingespeist werden (und wenn der
Patient will, auch wieder ausgetragen werden), sondern auch vor jeder
Behandlung abgerufen werden. Da die Daten im System ELGA nicht
zentral gespeichert werden, sondern dort aufliegen, wo die Befunde
erstellt wurden, heißt das in der Praxis, dass bei einem etwa 50- bis
60-jährigen Patienten Befunde von ungefähr ebenso vielen Stellen
eingesammelt werden müssen. "Das ist rein physisch nicht zu
schaffen", so Werner.
Nicht zuletzt bedeutet ELGA die Aussetzung des Datenschutzes und
damit die Aufhebung des Arztgeheimnisses. Denn de facto ist nach
derzeitigem Stand der Dinge die Schar der Zugriffsberechtigten - alle
Gesundheitsdienste-Anbieter außer Dentisten - unüberschaubar.
Beteuerungen, dass etwa Betriebsärzte/-ärztinnen keinen zugriff auf
Patientendaten von Jobbewerbern hätten, sind höchst unglaubwürdig.
Denn sie sind nun mal Ärzte/Ärztinnen, die prinzipiell berechtigt
sind, die Daten abzurufen.
Völlige Unklarheit herrscht auch, was die Kosten für das
ELGA-System betrifft. Befürworter sprechen von 150 bis 300 Mio. Euro.
Die Ärztekammer schätzte kürzlich 400 Mio. Euro. Andere Schätzungen
belaufen sich auf bis zu vier Mrd. Euro. In Deutschland wurde das
ELGA-Projekt abgeblasen, weil es mehr als 14 Mrd. Euro verschlungen
hätte. Vergleicht man diese Summen mit den "lächerlichen" sieben
Millionen, die im AKH eingespart werden sollen und deswegen
Ärzte/ÄrztInnen wie Patienten auf die Barrikaden steigen lässt, ist
es offensichtlich, dass das Geld wesentlich sinnvoller zum Wohle der
Patienten und Ärzte/Ärztinnen eingesetzt werden kann.
Es rumort in der Ärzteschaft
Erst gestern, Mittwoch, hat die NÖ Ärztekammer den Präsidenten der
Österreichischen (und auch Wiener) Ärztekammer, Dr. Walter Dorner,
zum Rücktritt aufgefordert, weil er in der
Bundesgesundheitskommission grundsätzlich für das Projekt ELGA
stimmte. Kommende Woche findet die Vollversammlung in der Wiener
Ärztekammer statt, und man darf gespannt sein, wie sich die
Ärzteschaft in der Bundeshauptstadt zu dem Thema artikuliert. Die
Position des Hausärzteverbandes ist ein "Nein" zu ELGA, aber ein
"Ja" zu Gesprächen über Alternativen.
Rückfragehinweis:
Hausärzteverband Wien MR.Dr. WERNER Wolfgang Präsident ÖHV-Wien E-mail: dr.w.werner@speed.at RHIZOM PR Otto Havelka Tel: 02230/2791 Mobil: 0664/1035421 E-mail: office@rhizom.at
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