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"Die Presse"-Leitartikel: Realpolitik in Ägypten, Zynismus in Libyen; von Michael Fleischhacker
Ausgabe vom 26.02.2011
Wien (OTS/Die Presse) - Die Zeitungen gleichen derzeit Wäldern von
erigierten Moralzeigefingern. Jetzt haben es wieder einmal alle immer
schon gewusst.
Die Frage ist alt: Darf ein Einzelner, darf eine Gesellschaft, darf
ein Staat seinen eigenen Prinzipien- und Wertekanon ignorieren, um
seine Interessen durchzusetzen? Ist es moralisch vertretbar, dass die
europäischen Staaten sich sowohl in Ägypten als auch in Libyen unter
Verweis auf humanitäre Interessen mit Stellungnahmen oder gar
Maßnahmen zurückhalten? Solange eigene Landsleute zu Opfern des sich
im Endkampf befindlichen Terrorregimes von Tripolis werden könnten,
halte er ein entschiedeneres diplomatisches Vorgehen für nicht
angemessen, erklärte der österreichische Außenminister.
Gaddafi versteht sich - das war einer der wenigen roten Fäden durch
seine absurden Fernsehauftritte - nicht einfach nur als Präsident
oder Herrscher des reichsten nordafrikanischen Landes. Er fühlt sich
als eine Art revolutionärer Göttervater, der jetzt, wie in Goyas
berühmtem Gemälde "Saturn frisst seine Kinder", die Nachkommen
umbringt, damit sie sich nicht gegen ihn erheben können. Es ist der
Höhepunkt einer politischen Psychopathenkarriere, die als solche zu
jeder Zeit mit freiem Auge erkennbar gewesen ist.
Und zwar für Politiker wie für Journalisten. Für Letztere scheint
wieder einmal der Grundsatz zu gelten: Moral ist, wofür man hinterher
eingetreten ist. Gewiss, es war moralisch höchst zweifelhaft, mit dem
Terrorpaten aus der libyschen Wüste Geschäfte im ganz großen Stil zu
machen. Jetzt, da die Libyer dabei sind, das Joch des Diktators unter
großen Opfern abzuschütteln, sagt sich das besonders leicht.
Realpolitik" nennt man den pragmatischen, die eigenen
Wertvorstellungen hinter politische und ökonomische Interessen
stellenden Zugang in den internationalen Beziehungen. Was früher als
ambivalentes, aber prinzipiell akzeptiertes Mittel der Politik der
großen Mächte galt, wurde mit dem Siegeszug des politischen
Moralismus, der mit großem Abstand schlimmsten Errungenschaft der
sogenannten Revolution von 1968, zum Inbegriff der moralischen
Verderbtheit des "Systems".
Die mit erigiertem Zeigefinger vorgetragenen Moralismen des politisch
korrekten Meinungsmainstreams sind zur sinnentleerten Kulthandlung
verkommen. Da werden Rechnungen aufgemacht, von denen man nicht
einmal mehr wusste, dass sie noch in der politischen Buchhaltung
liegen. Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus, die ganze alte
Leier, an der sich die 68er-Opas abgearbeitet haben. Als der
arabische Sozialismus noch Seite an Seite mit der großen Sowjetunion
gegen den US-Imperialismus kämpfte, da waren ägyptische Diktatoren
Helden; seit sie den USA als regionale Schlüsselmacht dienen, sind
sie grausame Despoten. Weiter reicht der dialektische Horizont des
politischen Moralismus einfach nicht.
Max Weber hat das Begriffspaar geprägt, das hinter all diesen
Debatten steht: "Gesinnungsethik" gegen "Verantwortungsethik". Der
Gesinnungsethiker ist der Prinzipienreiter, der bereit ist, dem
Bewusstsein seiner höheren Moral auch um den Preis des Gemetzels
Geltung zu verschaffen. Der Verantwortungsethiker wägt seine eigenen
Prinzipien gegen die möglichen Opfer ab, die ihre Durchsetzung kosten
könnte. Journalisten sind in der Regel Gesinnungsethiker, Politiker
verstehen sich überwiegend als Verantwortungsethiker. Das Gespräch
zwischen Journalisten und Politikern hat oft die Grenze zum Inhalt,
jenseits der die verantwortungsethische Argumentation nicht mehr
greift, weil sie zum erkennbaren Zynismus verkommen ist.
Derzeit liegt diese Grenze zwischen Ägypten und Libyen. So angebracht
Realpolitik und Verantwortungsethik im Umgang mit der ägyptischen
Revolution aus Rücksicht auf die prekäre Lage Israels sind, so
deutlich tritt der Zynismus des Westens im Umgang mit Muammar
al-Gaddafi zum Vorschein. Der Mann gehört aus dem Verkehr gezogen.
Der österreichische Bundeskanzler hat ihn vor vielen Jahrzehnten
international salonfähig gemacht. Es ist kein Wunder, dass sich heute
der österreichische Außenminister in Sachen Libyen für unzuständig
erklärt. Kanzler haben wir ja keinen mehr.
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