• 26.09.2010, 18:18:04
  • /
  • OTS0072 OTW0072

Die Presse - Leitartikel: "Nachrichten aus dem Paralleluniversum", von Michael Fleischhacker

Ausgabe vom 27.09.2010

Wien (OTS) - Die Steiermark hat einen neuen Landtag gewählt. Das
hat zwar keine Bedeutung, sorgt aber für Aufregung.

Wäre die Politik, die Landespolitik zumal, Teil der wirklichen Welt,
so ließe sich sagen, dass das Ergebnis der steirischen Landtagswahl
vollkommen gleichgültig ist. Genau so gleichgültig wie die Ergebnisse
von sieben anderen Landtagswahlen in Österreich auch. Denn die
Landespolitik berührt das wirkliche Leben der Menschen nicht. Die
Landespolitik gibt keine Antwort auf die Fragen, die die Menschen
wirklich haben. Natürlich entsteht beim Ausgeben des Geldes, das
andere Menschen eingenommen haben, da und dort ein Arbeitsplatz, ganz
besonders in der Verwaltung. Aber die Beeinflussung des wirklichen
Lebens der Bürger durch gesetzliche Rahmenbedingungen und
unmittelbare Verwaltungsaktivität findet anderswo statt. Immer mehr
in Brüssel, immer weniger in Wien, gleich bleibend viel in den
Kommunen.
Darum ist auch die Wiener Landtagswahl die einzig relevante: weil sie
zugleich eine Gemeinderatswahl ist. In Wien geht es um etwas, denn
das, was die seit Jahrzehnten allein regierende SPÖ in Wien tut, hat
unmittelbaren Einfluss auf das Leben der Menschen. Der ist
bekanntlich zweischneidig: Wien gilt als eine der sichersten und
bestverwalteten Metropolen der Welt. Der Preis dafür ist ein
grenzdemokratisches Selbstbedienungsregime, in dem zwischen Stadt und
Partei kaum unterschieden wird.
Landespolitik, die nicht zugleich Gemeindepolitik ist, also jegliche
Landespolitik außerhalb von Wien, ist eine Art verfassungsmäßige
Operettenveranstaltung. Aus Bundessteuergeldern wird über den Weg des
sogenannten Finanzausgleichs politische Folklore finanziert. Dass das
so ist, konnte man auch am steirischen Landtagswahlkampf ablesen. Die
angeblich so spannende Auseinandersetzung zwischen Amtsinhaber Franz
Voves und seinem Herausforderer Hermann Schützenhöfer war vollkommen
inhaltsfrei.

Weil also die Politik, vor allem die Landespolitik, nicht Teil der
wirklichen Welt ist, sondern ein Paralleluniversum für Eingeweihte,
war gestern von einer der spannendsten Wahlen seit Langem die Rede.
Zunächst sah es so aus, als würde die ÖVP doch wieder zur
stimmenstärksten Partei werden können, allerdings hielten die Grazer
Ergebnisse nicht, was die Schwarzen von ihnen erwarteten. Am Ende
kommt es erst wieder darauf an, wie sich der einzige Wahlsieger des
Abends verhält: FPÖ-Landeschef Gerhard Kurzmann entscheidet darüber,
wer Landeshauptmann wird. Berührungsängste haben weder SPÖ noch ÖVP,
ob sich Hermann Schützenhöfer den Coup, aus der Nummer-zwei-Position
auf den Landeshauptmannsessel zu hopsen, wirklich leisten kann,
scheint äußerst fraglich. Damit bleibt die wahrscheinlichste Variante
eine Fortsetzung von Rot-Schwarz.
Das wäre vor allem im Interesse von Bundeskanzler Werner Faymann. Wer
die FPÖ so sehr dämonisiert und bei jeder Gelegenheit von allen
anderen Parteien so dezidiert eine Absage an jede Zusammenarbeit
fordert, könnte eine Koalition der steirischen SPÖ mit der
Minarett-baba-Partei schwer erklären. Für die ÖVP wäre eine solche
Variante deutlich attraktiver, aber auch politisch "teurer".
Ungefähr so wird gerechnet im politischen Paralleluniversum: Man
wendet komplizierte Operationen an auf Rechnungen mit irrelevanten
Ergebnissen.

Wenn etwas interessant war an dieser Wahl, dann waren es die
Wanderungsbewegungen, die sich vor allem in den größeren
Bezirksstädten zeigen. Es hat sich seit den späten 80er- und frühen
90er-Jahren kaum etwas geändert. Die frustrierten SPÖ-Wähler wandern
direkt zur FPÖ. Die holt noch immer die Unterschicht-Proteststimmen
ab. Nur die Grünen können ihre Chance, die Oberschicht-Proteststimmen
der frustrierten Bürgerlichen einzuheimsen, nicht mehr nutzen. Das
hat vielleicht damit zu tun, dass die Grünen im Unterschied zu den
Freiheitlichen dafür auch eine attraktive Spitzenperson bräuchten.
Die haben sie derzeit nicht, weder auf Bundes- noch auf Landesebene.
Das Bild, das die österreichische Politik derzeit abgibt, gleicht
erschreckend dem von vor 20 Jahren: Eine Zwangskoalition der
Ex-Großparteien wird von Rechtspopulisten bedrängt (die Grünen
begnügen sich mit der Rolle der moralisch Auserwählten). Heute
braucht es dafür nicht einmal mehr ein Kaliber wie Jörg Haider, es
reicht ein blasser Hetzgroßsprecher.
Für viele war der Ausweg, den Wolfgang Schüssel 1999 wählte, eine
Tragödie. Die historische Wiederholung von Tragödien, sagte Marx,
finde als Farce statt. Wie recht er doch hatte.

Rückfragehinweis:
chefvomdienst@diepresse.com

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | PPR

Bei Facebook teilen.
Bei X teilen.
Bei LinkedIn teilen.
Bei Xing teilen.
Bei Bluesky teilen

Stichworte

Channel