- 26.08.2010, 14:38:01
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Dringender Nachholbedarf in der Versorgung psychisch Kranker in Österreich
Alpbach (OTS) - Bei einem Symposium anlässlich des Europäischen
Forums Alpbach 2010 diskutierten führende österreichische Psychiater,
Sozialmediziner und hochrangige Vertreter der Ärztekammer sowie der
Patientenanwaltschaft die zunehmend prekäre Situation psychisch
Kranker im Spannungsfeld von Medizin und Ökonomie und forderten für
diese dasselbe Versorgungsniveau wie für Patienten mit organischen
Erkrankungen, insbesondere im Hinblick auf einen verbesserten Zugang
zu therapeutischen Innovationen.
In Österreich wie auch der EU sind psychische Erkrankungen im
Steigen begriffen, wobei laut Schätzungen in der EU ca. 50 Millionen
Menschen betroffen sind. Insbesondere Depressionen stellen eine
Herausforderung für die Gesundheitssysteme dar, da diese in vielen
EU-Staaten bereits die häufigste psychische Erkrankung sind. In
Österreich leiden mindestens 400.000 Menschen an einer
behandlungsbedürftigen Depression und das Lebensrisiko, an einer
Depression zu erkranken, liegt bei ca. 20 Prozent. Gemäß
Expertenschätzung erhalten nur 30-40 Prozent der Betroffenen eine
adäquate Behandlung.
Menschen mit Depressionen weisen im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung ein 20-fach erhöhtes Suizidrisiko auf, und die
Suizidrate ist gemäß österreichischen Daten für 2009 fast doppelt so
hoch wie die Anzahl der Verkehrstoten (1.273 Suizide vs. 691
Verkehrstote). In diesem Zusammenhang betonte Prim. Univ.-Prof. Dr.
Michael Musalek vom Anton Proksch Institut, Wien, sowie
Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, dass
bereits leichte bis mittelschwere Depressionen hochgefährlich sind
und zum Suizid führen können.
Volkswirtschaftliche Belastung durch psychische Erkrankungen
Psychische Erkrankungen sind in Österreich die einzige
Krankheitsgruppe, die seit Mitte der 1990er Jahre einen klaren
Aufwärtstrend hinsichtlich beruflicher Fehlzeiten pro Beschäftigten
aufweisen, und stellen bei Frauen die häufigste und bei Männern die
zweithäufigste Ursache von Invaliditätspensionen dar. So wird ein
Drittel der Frühpensionierungen wegen Berufsunfähigkeit bzw.
Invalidität aufgrund von psychischen Problemen genehmigt. "Aufgrund
der hohen Produktivitätsverluste werden die direkten Kosten der
Behandlung durch die indirekten Kosten übertroffen", konstatierte
Univ.-Prof. Dr. Bernhard Schwarz, Zentrum für Public Health, Wien. So
wurden für die Depression in Europa, abhängig vom Schweregrad der
Erkrankung, direkte Kosten von Euro200 bis Euro14.500 pro Patient und
Jahr verzeichnet, mit Krankenstandskosten von Euro4.200 bis Euro4.900
pro Patient und Jahr. Die enormen indirekten Kosten bei psychischen
Erkrankungen hingegen sind bedingt durch Frühpensionierung,
Arbeitsunfähigkeit und zum Teil auch "Präsentismus", d.h. Präsenz am
Arbeitsplatz trotz signifikant reduzierter Leistungsfähigkeit.
"Die vorliegenden Daten zeigen einen gigantischen
Versorgungsbedarf hinsichtlich psychischer Erkrankungen", so Schwarz.
Diese Forderung entspricht auch dem "European Pact for Mental Health
and Well-being", in dem psychische Gesundheit als Schlüsselfaktor für
den sozioökonomischen Erfolg in der EU bewertet wird: Eine rasche
Diagnosestellung, adäquate Behandlung und umfassende
Rehabilitationsprogramme gelten somit als verpflichtend.
Hindernisse für innovative Therapien
"Bei depressiven Patienten sinkt die Wahrscheinlichkeit einer
Gesundung, je länger die Dauer einer depressiven Episode aufgrund
fehlender oder unzureichender Behandlung ausfällt", erläuterte
Univ.-Prof. DDr.h.c. Dr. Siegfried Kasper, Univ.-Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie, Wien, und Österreichische
Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische
Psychiatrie. "Ein unbehandelter Patient ist somit teurer als ein
behandelter Patient." Laut Kasper herrscht in der gesellschaftlichen
Bewertung medikamentöser Therapien in der Psychiatrie zu Unrecht noch
große Zurückhaltung, zumal ein Bedarf an innovativen Medikamenten
besteht: "Aktuelle Therapien verbessern bei zu wenigen Patienten den
Krankheitsverlauf, neue Forschungsergebnisse sollten daher
unmittelbar in die tägliche Praxis einfließen", so Kasper. Für
psychiatrische Patienten ist daher dasselbe Niveau wie für
organmedizinische Patienten einzufordern, d.h. innovative Therapien
sollten genauso schnell und einfach zugänglich sein. Auch Hon.-Prof.
Dr. Konrad Brustbauer von der Wiener Patientenanwaltschaft betonte,
dass der psychisch Erkrankte ein Patient wie jeder andere ist und
somit dieselben Rechte auf eine bestmögliche Versorgung hat.
Der Forderung nach Wiederherstellung psychischer Gesundheit mit
allen verfügbaren Maßnahmen stehen allerdings zunehmend
gesundheitsökonomische Restriktionen entgegen. Zudem stellen die
Bedingungen der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA) für die
Einführung neuer Medikamente für psychisch Kranke oft eine
beträchtliche Hürde dar. So wurde im letzten Jahrzehnt nur ein neues
Antidepressivum (Agomelatin) in Europa zugelassen, während im selben
Zeitraum zehn neue Medikamente gegen Epilepsie eingeführt wurden.
Selbst im Fall einer Zulassung wird die Verfügbarkeit neuer Therapien
durch Probleme bei der Kostenerstattung behindert.
Angesichts der Fortschritte in den Neurowissenschaften und des
steigenden Behandlungsbedarfs fordern die Experten die Umsetzung
einer bestmöglichen Versorgung psychisch Kranker und Univ.-Prof.
DDr.h.c. Dr. Siegfried Kasper gemahnte gemäß dem Sinnspruch des
Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller "Der Wert einer
Gesellschaft kann daran gemessen werden, was sie für ihre seelisch
Kranken tut" an den politischen Stellenwert der Psychiatrie.
Die in diesem Pressetext verwendeten Personen- und
Berufsbezeichnungen treten der besseren Lesbarkeit halber nur in
einer Form auf, sind aber natürlich gleichwertig auf beide
Geschlechter bezogen.
Rückfragehinweis:
Update Europe GmbH
Mag. Sonja Mak
Tigergasse 3/5, 1080 Wien
Tel.: 01-4055734
E-mail: s.mak@update.europe.at
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