Der Kardinal setzt ein gutes Zeichen, dem dringend Taten folgen müssen.
Wien (OTS) - Ostern 1995 im Wiener Stephansdom: Kardinal Hans
Hermann Groer ist soeben zurückgetreten. Die Osterliturgie zelebriert
erstmals sein Nachfolger Christoph Schönborn. Er hatte bei Ausbruch
des Missbrauchskandals noch die Aufdecker attackiert, sie agierten
gegen die Kirche wie einst die Nazis (und sich erst lange danach für
diese Entgleisung entschuldigt).
Reue und Buße standen nicht hinter dem Machtwechsel. Eine Welle
von Kirchenaustritten hatte den Vatikan alarmiert. Der Papst zog die
Notbremse. Groer selbst musste sich weder in Wien noch in Rom einer
Untersuchung stellen. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit wurde eine
Ombudsstelle für Missbrauchsopfer eingerichtet. Der Zulauf war
endenwollend. Der infame Versuch, das erste Missbrauchsopfer Josef
Hartmann zum Täter zu machen, hatte abgeschreckt. Hunderte behielten
ihr Trauma lieber weiter für sich. Sie schwiegen, aber konnten
weniger denn je vergessen. Die Chance, in Ruhe reinen Tisch zu
machen, war von Schönborn verspielt worden.
Ostern 2010: Seit Anfang des Jahres sind in Deutschland beinahe
täglich Missbrauchsfälle im Dutzend ruchbar geworden. Dort reagiert
die Öffentlichkeit mit Einfühlungsvermögen und gründlicher
Aufarbeitung. Ein erstmals würdiger Umgang mit den Opfern, der auch
hierzulande die Schleusen öffnet. 50- und 60-Jährige melden sich seit
Wochen mit erschütternden Berichten von Missbrauch und Gewalt in
ihrer Kindheit zu Wort.
Kardinal Christoph Schönborn lud Mittwochabend zu einem
Bußgottesdienst in den Dom, um "ein Schuldbekenntnis im Namen der
Kirche" zu sprechen: "Einige von uns haben sexuelle Gewalt
angewendet".
Für gläubige Christen ein starkes Zeichen der Einsicht. Für die
breite Öffentlichkeit ein längst überfälliger erster Schritt, dem
noch viele folgen müssten.
Will die Kirche nachhaltig Vertrauen zurückgewinnen, muss sie
nach dem Schuldbekenntnis auch tätige Reue üben. Die Einrichtung
einer Untersuchungskommission kann hier ein Anfang sein. Wie
glaubwürdig er ist, hängt davon ab, was Ex-ÖVP-Landeshauptfrau
Waltraud Klasnic tatsächlich daraus machen kann und wird. Als
nächster Schritt unausweichlich ist die großzügige Dotierung eines
kirchlichen Wiedergutmachungsfonds für Missbrauchsopfer. Bisher
wurden nur in Einzelfällen Therapien (mit-)finanziert.
Entscheidend wird sein, ob die Kirche ihren Umgang mit
Sexualität entkrampft. Das italienische Qualitätsblatt La Repubblica
meldete kürzlich, im Vatikan kursiere der Plan, den lichtzölibat
in den nächsten 50 Jahren abzuschaffen. Im Jahr 2060 könnten so auch
Kleriker ein gesundes offenes Verhältnis zur ihrer Sexualität leben.
Der Bußgottesdienst in Wien war ein erstes positives Signal für
gläubige Katholiken. Es braucht schon einen unerschütterlichen
Glauben, weiterhin geduldig hinzunehmen, dass Rom in vielleicht 50
Jahren dort anzusetzen gedenkt, wo - auch für die kleiner werdende
Schar der Gläubigen mehrheitlich - die Wurzel des Übels liegt.
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