• 28.09.2009, 18:06:51
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DER STANDARD-Kommentar: "Die Tigerente hat Gelbsucht" von Birgit Baumann

"Beim Eifer der FDP kann Merkel froh sein, dass die Opposition (noch) schwächelt"; Ausgabe vom 29.9.2009

Wien (OTS) - Man kennt und schätzt sich seit Jahren. Und daher hat
sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre ersten Gespräche
mit FDP-Chef Guido Westerwelle vielleicht so vorgestellt: "Also, die
Ministerien teilen wir ja schnell auf, bei der Steuersenkung werden
wir uns auch rasch einig. Noch ein Keks, Guido?"
Doch nicht einmal 24 Stunden nach der deutschen Wahl muss Merkel mit
Entsetzen feststellen: Westerwelle will nicht nur ein Keks. Er will
fast die Hälfte der Packung. Er musste elf Jahre lang auf der
Oppositionsbank darben. Lektion Nummer eins also für Merkel, bevor
sie in die Koalitionsverhandlungen geht: Sie wird sehr aufpassen
müssen, dass die Tigerente nicht zu gelb wird.
Es irrt, wer glaubt, dass Merkel bei der Besetzung der
Regierungsämter eine einfache Rechnung aufmachen wird können: Was sie
der FDP aus Dankbarkeit für das Zustandekommen von Schwarz-Gelb
draufschlägt, das nimmt sie einfach bei der CSU weg. Weil die
Christsozialen haben ja im Süden ohnehin so schwach abgeschnitten.
Gerade deswegen wird ihr Chef Horst Seehofer bei den
Koalitionsverhandlungen den wilden bayerischen Löwen markieren und
lautstark nach Posten und Einfluss rufen. Irgendwie muss er dieses
schmerzende Defizit ja wieder wettmachen.
Doch bei allem Triumph und neuem Selbstbewusstsein - auch Westerwelle
wird sich ein wenig zurückhalten müssen. Führt er Merkel absichtlich
vor, dann wird ihm schnell wieder das Image dessen anhaften, der vom
Machtrausch besessen ist. Außerdem hat Westerwelle keinen Plan B. Er
hat sich der Union auf Gedeih und Verderb verschrieben, eine
Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen kategorisch ausgeschlossen.
Also kann er auch nicht drohen, sich wieder von Merkel abzuwenden,
wenn sie seine Maximalforderungen nicht zu erfüllen bereit ist.
Angesichts dieser nicht ganz einfachen Ausgangslage für CDU, CSU und
FDP bei den Koalitionsverhandlungen kann Merkel ja richtig froh sein,
dass von den Oppositionsparteien - zumindest in der kommenden Zeit -
keine wirkliche Gefahr droht. SPD, Linke und Grüne gemeinsam auf der
Oppositionsbank, das könnte eigentlich eine starke Phalanx sein, die
Schwarz-Gelb vor sich hertreibt. Themen gäbe es genug - Stichwort
Atomkraft, Stichwort Sozialstaat, Stichwort Steuersenkung für
Unternehmen. Doch so weit ist es längst noch nicht. Die Opposition
muss sich erst mal sortieren, wobei sich die Linken und die Grünen
dabei am leichtesten tun. Sie machen einfach weiter wie bisher, ihr
"Feindbild" ist noch klarer. Also sieht man die Grünen schon förmlich
in den Keller steigen und die alten Anti-Atomkraft-Schilder
auspacken, während Die Linke eine Skala nach der anderen zeichnet,
worauf die "soziale Kälte" der neuen Regierung gegenüber den "kleinen
Leuten" penibel vermerkt ist.
Den Wunsch, sich zusammenzutun, verspürt keine Seite. So schlecht
geht es weder Grünen noch Linken. Sie werden vorerst getrennt
marschieren und jeder wird für sich trommeln. Was sollen sie auch
machen ohne die SPD? Deren exorbitante Schwäche ist das Hauptproblem
der deutschen Opposition. Es wird Monate dauern, bis sich die SPD von
diesem Wahlschock erholt hat und dann irgendwann neu sortieren kann,
wobei natürlich allen klar ist, dass allein ein neuer Kopf an der
Spitze noch keine Erleuchtung bringt.
Wohin wollen wir? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit heute? Das sind
die Fragen, die die SPD erst einmal beantworten muss. In Opposition
wird das leichter fallen als in einer Regierung. Dennoch wird es sehr
viel Kraft kosten und ein schmerzhafter Prozess sein. Aber da muss
die SPD durch. Erst dann, im zweiten Schritt, kann sie sich nach
Verbündeten gegen Merkel umsehen.

Rückfragehinweis:
DER STANDARD Newsroom: 01 531 70-445

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