Wien (PK) - Vor 90 Jahren, am 3. April 1919, sprach zum ersten Mal
eine Frau im österreichischen Parlament: Adelheid Popp. Wir bringen
aus diesem Anlass ein Kurzporträt der sozialdemokratischen
Politikerin. (Ein ausführliches Porträt Adelheid Popps siehe PK Nr.
364/2009; zu Adelheid Popp als Parlamentarierin siehe PK Nr.
190/2009.)
Vorzeigefrau der österreichischen Sozialdemokratie, parlamentarische
Pionierin, Ausnahmeerscheinung - das alles sind Attribute, die auf
Adelheid Popp (1869 - 1939) zutreffen und mit denen sie auch immer
wieder charakterisiert wird. Popp ist die erste Frau in Österreich,
die von einer Partei für ihr politisches Engagement angestellt wurde,
sie stellt damit auch die erste "institutionalisierte" moderne
Politikerin dar (Hauch, Gabriella: Adelheid Popp. Bruch-Linien einer
sozialdemokratischen Frauen-Karriere Wien 1998, S. 28) und sie gehört
zu den ersten gewählten Parlamentarierinnen.
Autodidaktin wie sie war, hat sie es geschafft, sich aus schlimmsten
sozialen Verhältnissen aus eigener Kraft zu befreien und politische
Leitfigur zu werden. Adelheid Popps Leben ist wie ein Appell an alle
zu verstehen, Hürden zu überwinden, an sich selbst zu arbeiten, sich
zu engagieren und für seine Überzeugungen mit friedlichen,
demokratischen Mitteln einzutreten. Ihre Lebensgeschichte ist
durchaus geeignet, jungen Menschen des 21. Jahrhunderts, die
angesichts der Entwicklungen wenig oder falsche Perspektiven für sich
sehen, Mut zu machen.
Popp wurde 1891 Mitglied des Wiener Arbeiterinnenbildungsvereins,
1893 Vorsitzende des Lese- und Diskutierclubs "Libertas". In der Zeit
von 1892 bis 1934 fungierte sie als Redakteurin der von ihr
mitbegründeten Arbeiterinnen-Zeitung. 1902 initiierte sie gemeinsam
mit Therese Schlesinger gegen den Widerstand der Parteispitze den
Verein sozialdemokratischer Frauen und Mädchen. 1918 wurde sie dann
schließlich in den Wiener Gemeinderat gewählt, dem sie bis 1923
angehörte, sie wurde aber auch als eine der ersten acht
Parlamentarierinnen nach Einführung des Frauenwahlrechts 1919 in die
Konstituierende Nationalversammlung gewählt und gehörte dann dem
Nationalrat bis zu seiner Auflösung im Jahr 1934 an.
Der Lebensweg war ihr, wie bereits erwähnt, nicht in die Wiege
gelegt, entstammte sie doch bitterarmen Verhältnissen: Der Vater, ein
Weber, war dem Alkohol verfallen. Adelheid musste oft miterleben, wie
er die Mutter schlug. Er starb, als sie sechs Jahre alt war. Die
Mutter, aufopfernd und beherrscht von ihren Sorgen, wie sie die
Kinder tagtäglich ernähren soll, hatte keine Zeit, ihre mütterliche
Fürsorge und Liebe den Kindern auch zu zeigen. Von den 15 Kindern,
die sie geboren hatte, überlebten fünf, Adelheid und ihre vier
Brüder. Adelheid musste bereits mit 8 Jahren als Heimarbeiterin Geld
verdienen, mit 10 Jahren meldete sie die Mutter trotz Schulpflicht
nicht mehr in der Schule an, denn die Familie hatte jeden Verdienst
nötig, um halbwegs über die Runden zu kommen, bzw. nicht zu
verhungern. Außerdem hielt die Mutter, selbst Analphabetin, für eine
Arbeiterin Bildung für unnötig. In ihren Erinnerungen "Jugend einer
Arbeiterin", schreibt Adelheid Popp über ihre Kindheit: "Kein
Lichtpunkt, kein Sonnenstrahl, nichts vom behaglichen Heim, wo
mütterliche Liebe und Sorgfalt meine Kindheit geleitet hätte" (S.
25). Einige Seiten weiter (S. 36) klagt sie: "In späteren Jahren
überkam mich oft ein Gefühl grenzenloser Erbitterung, dass ich gar
nichts von Kinderfreuden und Jugendglück genossen hatte". Dennoch
hing Adelheid Popp Zeit ihres Lebens an ihrer Mutter und kümmerte
sich um sie bis an deren Lebensende.
Die Schilderungen, wie Adelheid Popp in der Kälte, nur spärlich
bekleidet, oft erfolglos Arbeit suchte, wie sie bei den Reichen
bettelte, um Geld für das Nötigste zu erhalten, wie sie das Bett mit
anderen teilen musste, und die Familie trotz Platzmangels auch noch
einen Freund des Bruders als Bettgeher aufnahm, die schwierigen
Situationen die sich daraus für ein heranwachsendes Mädchen ergaben,
das alles sind für uns heute unvorstellbare Zustände. Die Lektüre ist
eine erschütternde.
Gleichzeitig ist sie aber auch eine faszinierende. Denn Adelheid
liebte das Lesen, borgte sich Bücher aus und nützte jede freie Minute
nach schwerer stundenlanger Arbeit, sich ihrer Lieblingsbeschäftigung
hinzugeben - trotz großer Müdigkeit und trotz großen Widerstands und
Unverständnis seitens ihrer Mutter. Waren es anfangs romantische
Geschichten, die sie dann mit Begeisterung weitererzählte, änderte
sich dies, als sie mit dem Freund ihres Bruders, einem
Sozialdemokraten, persönlich in Kontakt kam und zum ersten Mal die
"Gleichheit", das Zentralorgan der frühen Sozialdemokratie, in den
Händen hielt. Von da an wurde ihr bewusst, dass das triste Schicksal
der Arbeiterklasse nicht als gottgegeben hingenommen werden muss. Sie
interessierte sich für politische Lektüre, las aber auch Werke der
Weltliteratur. Von ihrem geringen Lohn zweigte sie Geld ab, um eine
Zeitung zu kaufen, ihr Wissen, ihre Anschauungen gab sie dann auch
ihren Kolleginnen in der Fabrik weiter. Sie begann damit, auf eigene
Faust zu "agitieren", wie man damals sagte.
Wie sehr Lesen bildet, ist nicht nur aus der beeindruckenden
persönlichen Entwicklung abzulesen, die Adelheid Popp gemacht hat,
sondern vor allem aus ihren Schriften und Reden. Sie zitierte viel
und ihr Schreib- und Lesestil ist facettenreich, eindringlich und
aufwühlend. Mit einer dreijährigen Schulausbildung erreichte es
Adelheid Popp, zur Redakteurin der Arbeiterinnen-Zeitung zu werden.
Sie hört nie auf sich weiterzubilden, sei es in der Muttersprache,
sei es das Erlernen von Fremdsprachen wie Englisch und Französisch.
Sie war von Jugend auf von der Notwendigkeit durchdrungen, etwas
gegen die herrschenden Verhältnisse unternehmen zu müssen, und zwar
selbst. "Zu kämpfen nicht nur für die gesamte Arbeiterklasse, sondern
auch zu kämpfen für die Befreiung der Frauen von wirtschaftlicher
Bedrückung, geistiger Nacht und politischer Rechtlosigkeit", sah sie
als ihre Aufgabe (s.u.: Gedenkbuch, 20 Jahre österreichische
Arbeiterinnenbewegung, S. 22). In der Bildung erkannte sie den
zentralen Hebel zur Selbstbefreiung, zum sozialen Aufstieg und zu
einem würdigen Leben - eine Erkenntnis, die angesichts aktueller
Probleme im Schulbereich wieder in den Mittelpunkt in das öffentliche
Bewusstsein rückt, bzw. rücken sollte.
Ist es auch heute für die meisten Menschen nicht leicht, vor einer
großen Menschenansammlung das Wort zu ergreifen, so war das in der
damaligen Zeit für eine junge Frau etwas Unerhörtes. Umso
bewundernswerter ist es - und es sagt auch viel über den Charakter
Adelheid Popps und ihre Willensstärke aus - dass sie sich eines Tages
im Arbeiterinnenbildungsverein veranlasst sah, auf die Rednertribüne
zu gehen, das Leiden der Arbeiterinnen zu schildern und Aufklärung,
Bildung und Wissen für die Frauen zu fordern. Sie galt von da an als
eine Ausnahmeerscheinung.
Es gehörte viel Mut dazu, sich als Frau öffentlich zu artikulieren,
zumal es schon als "unschicklich" galt, als Frau in eine Versammlung
zu gehen, noch dazu, wenn diese in einem Gasthaus stattfand. Popp war
daher, wie sie selbst immer wieder betonte, darum bemüht, eine
"seriöse Erscheinung" abzugeben. Auch in der Fabrik arbeitete sie
präzise, sodass ihre Vorgesetzten keinen Grund zu Beanstandungen
hatten.
Die Widerstände, mit denen sie als Frau zu kämpfen hatte, waren nicht
nur auf die damals allgemeine Stellung der Frau in der Gesellschaft
zurückzuführen. Diese Einstellung hatte selbstverständlich auch auf
die Anschauungen ihrer Parteigenossen Einfluss. So verdiente Adelheid
Popp beispielsweise weniger als männliche Kollegen, auch beim Ersatz
der Reisekosten wurden die Frauen knapp gehalten. Es gab in der
Partei, vor allem bei den Gewerkschaften, durchaus auch handfeste
Gründe, die Frauen fernzuhalten. "Die Arbeiterinnen wurden in allen
Branchen als Eindringlinge angesehen. Die unausweichliche ökonomische
Notwendigkeit der Frauenarbeit wurde erst von wenigen erkannt. ...
Politisches Verständnis bei Frauen betrachtete man höchstens als das
einzelnen eigentümliche Kennzeichen männlicher Gesinnung, aber
durchaus nicht als etwas auch dem Durchschnittsweibe Anhaftendes",
klagt Popp in ihrer Schrift "Die Arbeiterin im Kampf ums Dasein" (S.
1/2). Bei der Unterstützung zur Einführung des Frauentags,
insbesondere aber auch im Kampf um das Frauenwahlrecht blieb das
Verständnis der Parteigenossen ebenfalls ein enden wollendes. Viel
Verständnis und Unterstützung fand Adelheid Popp mit ihren
Genossinnen jedoch bei Victor Adler.
Popp gehörte nicht zu jenen, die sich von Widerständen und
Konventionen von ihrer Überzeugung, aktiv etwas tun zu müssen,
abhalten oder irritieren ließ. Oft musste sie nach Veranstaltungen
vor den Richter. Da sie sich geschickt zu verteidigen wusste, wurde
sie meist freigesprochen. Sie ging aber nie mit dem Kopf durch die
Wand, sondern spürte, wie weit sie jeweils gehen konnte, auch wenn
sie die Möglichkeiten bis an die Grenzen ausreizte. Ihrem
Selbstbewusstsein konnten weder Diffamierungen in der Öffentlichkeit
noch frauenfeindliche Tendenzen in der Partei selbst etwas anhaben.
Victor Adler riet ihr einmal: "Liebe Genossin, wenn sie wieder einmal
gesiegt haben, so lassen Sie das die Besiegten nicht merken". Damit
ist wohl viel über ihre Willenskraft ausgedrückt.
Wie andere Frauen auch, die sich entgegen allen Konventionen
außerhäuslich politisch engagierten, stand sie vor der Schwierigkeit,
Beruf(ung) und Familie miteinander in Einklang zu bringen. Damit
einher ging natürlich auch schlechtes Gewissen gegenüber ihrer
Familie. Sie hatte jedoch einen in seinem Denken sehr modernen
Ehemann, auch wenn er um 20 Jahr älter war als sie. Julius Popp,
Mitherausgeber der Arbeiterzeitung, Sekretär und Kassier der Partei,
ermutigte, ja drängte sie gerade dazu, ihrer öffentlichen Aufgabe
nachzukommen. Er betätigte sich als "Manager" seiner Frau, kümmerte
sich während ihrer Abwesenheit um das Kind und verzichtete auf viele
Annehmlichkeiten. Im Vorwort zur dritten Auflage ihrer Erinnerungen
"Jugend einer Arbeiterin", schreibt sie dann: "Meine leider allzu
kurze Ehe habe ich geschildert, aber nicht um über mich zu sprechen,
sondern um an meinem individuellen Schicksal zu zeigen, dass die
öffentliche Tätigkeit der Frau durch die Ehe und durch ihre Pflichten
als Mutter und Gattin nicht gehemmt werden muss. Es handelt sich da
um eines der großen Probleme der Frauenfrage, um eine der wichtigsten
Vorfragen bei der Erörterung vollkommener politischer und
gesellschaftlicher Gleichberechtigung der Frau".
Adelheid Popp wurde zu einer der wichtigsten Wegbereiterinnen nicht
nur der sozialdemokratischen Frauenbewegung, sondern auch der
organisierten Frauenbewegung allgemein. Mit unglaublichem Einsatz
fuhr sie von einer Versammlung zur anderen, nahm harte körperliche
Strapazen auf sich, um die Frauen aufzuklären und zu motivieren. Ihr
großes sozialpolitisches Engagement war auch deshalb so glaubwürdig,
weil Adelheid Popp wusste, wovon sie sprach, denn sie hatte die volle
Wucht der Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Armut am eigenen Leib
erfahren.
Sie forderte schon damals vehement die Einführung der Karenzzeit für
Mütter, die Errichtung von Entbindungsanstalten, die Gleichstellung
der Frauen in der Ehe und im Beruf und selbstverständlich auch das
Frauenwahlrecht und trat für eine Quotenregelung ein. Sie wagte es
aber auch, Tabus zu brechen und die Frage der Prostitution zu
thematisieren. Fast alle ihrer parlamentarischen Initiativen konnten
erst in der Zweiten Republik verwirklicht werden.
Die Wohnhausanlage in der Possingergasse 39-51, im 16. Wiener
Gemeindebezirk, wurde 1949 nach der Politikerin Adelheid Popp
benannt.
Verwendete Literatur:
Popp, Adelheid: Der Weg zur Höhe. Die sozialdemokratische
Frauenbewegung Österreichs. Frauenzentralkomitee der
sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (Hrsg); Wien,
1929
Popp, Adelheid: Jugend einer Arbeiterin. Bonn 1991
Popp, Adelheid: Die Arbeiterin im Kampf ums Dasein. Wien 1911
Popp, Adelheid: Frauenarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft.
Wien 1922
Popp, Adelheid: Erinnerungen. Aus meinen Kindheits- und
Mädchenjahren; Aus der Agitation und anderes. Berlin 1923
Popp, Adelheid: Zwanzig Jahre Arbeiterinnenbewegung. In: Popp,
Adelheid (Hrsg): Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische
Arbeiterinnenbewegung. Im Auftrag des Frauenrechtskomitees. Wien 1912
Köpl, Regina: Adelheid Popp. In: Edith Prost (Hrsg): Die Partei hat
mich nie enttäuscht. Österreichische Sozialdemokratinnen;). Wien 1989
Hauch, Gabriella: Adelheid Popp. Bruch-Linien einer
sozialdemokratischen Frauen-Karriere. In: Frauke Severit (Hrsg): Das
alles war ich. Politikerinnen, Künstlerinnen, Exzentrikerinnen der
Wiener Moderne. Wien 1998 (Schluss)
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Parlament/Adelheid Popp 1 =
Parlament allgemein/Parlamentarismus/Frauen
PARLAMENTSKORRESPONDENZ/09/28.04.2009/Nr. 363
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