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"Die Presse" - Leitartikel: Die Kränkung der Kränkungen, von Jürgen Langenbach

Ausgabe vom 12. Februar 2009

Wien (OTS) - Charles Darwin, der heute 200. Geburtstag hätte,
hat die Welt verändert wie kein anderer Forscher.

Vor 150 Jahren hob ein von Magenschmerzen und Hypochondrie geplagter
50-jähriger britischer Privatgelehrter, der sich nach einem Studium
der Theologie, autodidaktischer Aneignung der Geologie/Biologie und
einer Weltreise in ein Kaff bei London zurückgezogen hatte und dort
Muscheln sezierte und Tauben züchtete, die Welt aus den Angeln. Doch,
so pathetisch darf man es schon angehen zum 200. von Charles Darwin:
Keine andere wissenschaftliche Revolution hat Nachbeben wie seine;
keine andere Kränkung, die die Menschheit sich zugefügt hat, sitzt so
tief.
Kopernikus/Galilei hatten sie aus dem Zentrum des Universums
verbannt, Darwin aus dem der Schöpfung, Freud zeigte uns, dass wir
nicht einmal Herren im eigenen Haus sind. Aber das beunruhigt uns
nicht weiter, und mit Kopernikus/Galilei hat selbst Rom seinen
Frieden gemacht.
Mit Darwin nicht. Dabei geht es natürlich um Wahrheit und ebenso
natürlich um Macht - die Autorität der Institution Kirche hängt an
der des Schöpfers -, aber das ist nur der äußerliche Aspekt. Macht
kann ja nur wirksam werden, wenn ihre Botschaft auf fruchtbaren Boden
fällt. Der ist da, ein Fünftel der Österreicher nimmt die Bibel
wörtlich, ein weiteres Fünftel glaubt an irgendein Mitwirken Gottes
bei der Entwicklung des Lebens. Ihnen stehen ebenso viele, 41
Prozent, gegenüber, die sich auf die Seite Darwins schlagen und eine
Evolution ohne Gott für wahr halten. (Die absoluten Zahlen schwanken
von Umfrage zu Umfrage; das Verhältnis bleibt in der Waage.)

Entsprechende Umfragen zu Kopernikus/Galilei gibt es nicht, sie
würden eher Heiterkeit erregen: Kein Mensch bezweifelt, dass die Erde
sich um die Sonne dreht (und um sich selbst). Umgekehrt versteht sich
für jeden von selbst, dass die Sonne auf- und untergeht, nicht einmal
ein Hardcore-Astronom würde seine Freundin belehren wollen. Dieser
Widerspruch zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver
Himmelsmechanik liegt offen zutage, er bereitet uns kein
Kopfzerbrechen.
Aber vom Affen abstammen wollen wir nicht, wenigstens viele wollen es
nicht. "Schrecklich" sei dieses Lebewesen, notierte Queen Victoria,
als sie 1839 einen Orang-Utan im Zoo sah, "schrecklich", weil:
"schmerzhaft und widerwärtig menschlich". Der Eindruck wurde dadurch
verstärkt, dass man den Orang in Menschenkleider gesteckt hatte. Aber
auch in ihrem eigenen Fell sind sie uns so ähnlich, dass wir sie
lieber auf Distanz halten, mit zahllosen Definitionen unserer
Sonderstellung, vom "Homo sapiens" bis zum "Homo faber". Aber die
Wälle erodierten: Affen (und andere Tiere) benutzen Werkzeuge, viele
leben in komplexen sozialen Welten, viele sind klug, helfen ihren
Artgenossen, betrügen sie, schlagen sie gar tot, ganz ohne Grund, wie
sonst nur wir: Gangs junger Schimpansen machen Jagd auf Nachbarn.
Immerhin: Echte Kriege führen nur wir. Und Symphonien schreiben und
Bücher - und Leitartikel -, das tun auch nur wir, die hohe Kultur
bleibt uns. Aber die Übergänge fließen, Vögel musizieren auch nicht
übel. Und wenn die anderen in der Evolution nicht vorgearbeitet
hätten, hätten wir nicht ihr Erbe antreten und verfeinern können,
ohne sie wären wir nicht(s), vom ersten Bakterium angefangen bis zum
Cousin Schimpanse. Das haben sie uns zu sagen.

Mehr nicht, darin liegt das zweite Problem, sie können uns nicht
darüber belehren, warum und wozu wir leben und wie wir leben sollen,
die Evolution wirft weder Sinn noch Ethik ab. Auf die müssen wir
selbst kommen, allein, jeder für sich. Entlastung bieten
Deutungssysteme mit Schöpfergöttern, in denen wir uns spiegeln und an
denen wir uns orientieren können. Und zwar verlässlich, die
Glaubenswahrheit ist absolut und muss es sein, anders als die der
Wissenschaft, die prinzipiell für Änderungen offen ist, also auch in
ihrer Form keinen Halt bietet.
Hineinzureden haben die beiden Wahrheiten einander nicht, Darwin wäre
in der Religionsstunde so fehl am Platz wie Schöpfung oder "Design"
im Biologieunterricht. Aber vielleicht können sie (bei Bedarf)
koexistieren, ähnlich wie beim Sonnenaufgang: Auch Darwin sah den
Orang im Zoo - in jungen Jahren, noch fromm -, er gewann ihm anderes
ab: "Lasst die Menschen den Orang-Utan besuchen, seine Intelligenz
sehen. Der Mensch in seiner Arroganz hält sich selbst für ein großes
Werk, das des Eingriffs einer Gottheit wert ist. Es ist aber
demütiger und hat, wie ich glaube, auch mehr Wahrheit, ihn als
Abkömmling von Tieren zu betrachten." Congratulations, Darwin!

Rückfragehinweis:
chefvomdienst@diepresse.com

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