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"Die Presse"-Leitartikel: "Sie, ich, die Krise und Weihnachten", von Michael Prüller
Ausgabe vom 24. Dezember 2008
Wien (OTS) - Wer sich den Herausforderungen dieses Festes zu
stellen versucht, trägt nicht unbedingt zur Gemütlichkeit bei.
Es gibt eine Menge guter Gründe für ein ungemütliches Weihnachtsfest.
Damit ist jetzt nicht gemeint, dass Sie sich den ganzen Heiligen
Abend Gejammer zur Wirtschaftskrise anhören müssen. Nein, es reicht
schon, sich den intellektuellen Herausforderungen zu stellen, die die
Weihnachtsüberlieferung bereithält.
Nehmen wir einmal religiöse Menschen. Für sie bietet sich etwa ein
Eintauchen in den Prolog des Johannesevangeliums an. Das ist jener
Text, der in der Christmette verlesen wird, aber etwa auch in "Faust
I" vorkommt: Im Anfang war das Wort. Mit dem geheimnisvollen
Platzhalter das Wort für Gottes Sohn heißt es da: Und das Wort ist
Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. Das ist provokant: Ein
unermesslich großer und erhabener Gott, der sogar so komplizierte
Sachen wie einen Richard Dawkins erschaffen kann, liebt seine
Menschengeschöpfe so sehr, dass er sich ganz niedrig macht, um einer
von uns zu werden. Das gibt es nirgendwo sonst.
Aber das wirft die unangenehme Frage auf, was das eigentlich für
Selbstachtung und Achtung vor den anderen bedeutet und wie wir damit
umgehen. Und schon ist für uns Normalsünder die Idylle rund um Ochs
und Esel dahin. Schon gar, wenn wir unvorsichtigerweise auch den Satz
nicht überlesen haben: Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen
nahmen ihn nicht auf. "Die Seinen", das sind ja Sie und ich.
Aber nicht nur für die Frommen, auch für die freischaffend Humanen
findet sich leicht etwas Ungemütliches. Da gibt es zum Beispiel die
konfessionsungebundene Verniedlichung zum allgemeinen Friedensfest.
Das kommt wohl vom Ruf der Engel, der sich über jeder zünftigen
Krippe als Spruchband findet: Friede auf Erden den Menschen. Das
klingt so heimelig nach Vater und Mutter, die heute Abend nicht
streiten, sondern fest eingehängt über knirschenden Schnee zur Mette
schreiten. Selbst in der Deutschen Kriegsweihnacht, die sorgsam jede
Erwähnung von möglicherweise über dem Führer stehenden Mächten
vermied, war Friedenssehnen gestattet.
Aber heimelig ist das nicht, denn wenn Friede die Ruhe ist, die laut
Augustinus der gerechten Ordnung entströmt, dann ist Weihnachten
nicht nur Verheißung, sondern unangenehme Erinnerung, wer für die
gerechte Ordnung verantwortlich ist - niemand anderer als Sie und
ich.
Die Frage nach der gerechten Ordnung wird heute krisenbedingt von
vielen neu und vehement gestellt. Doch wenn man die Krise genau
betrachtet, wird deutlich, dass die Unordnung zwar auch in
Aufsichtsmängeln, Risikoformeln und Bilanzregeln zu finden ist, aber
vor allem im inneren Koordinatensystem der Akteure. Das meint nicht
das Primitivwort "Gier", sondern etwas Komplexeres: Die Bereitschaft
des Menschen, sich selbst zu belügen und den einfachen Anstand zur
Seite zu schieben, wenn die Versuchung einmal in abstrakterer Form
daherkommt oder auch nur groß genug ist.
Ein schönes Beispiel liefert die Geschichte von Bernard Madoffs
50-Milliarden-Schwindel. Wie man sich in New York erzählt, waren
Madoffs vorgebliche Anlagestrategien vielen schon lange suspekt. Aber
man habe die Ungereimtheiten nicht sehr ernst genommen, weil man
annahm, dass er seine hohen Renditen in Wirklichkeit mit
Insidergeschäften verdienen würde, für die er Informationen aus
seiner Großhandels-Brokerfirma beziehe. "Das ist zwar illegal",
scheint sich eine Reihe von Anlegern gedacht zu haben, "aber das kann
uns ja egal sein." Dass Madoff in Wirklichkeit so böse war, nicht
anonyme Marktteilnehmer auszunehmen, sondern seine eigenen Kunden,
konnte man ja nicht ahnen . . .
Da gab es auf dem Papier strenge Ordnung, aber die war wertlos, weil
die Menschen unordentlich gedacht und gehandelt haben. Aber tun das
nicht Sie und ich auch? Kredite aufzunehmen, bei denen man mit
Devisen spekuliert, um sich Häuser zu kaufen, die man sich eigentlich
nicht leisten kann, ist eine typische Unordentlichkeit unserer Tage.
Leichtsinn, Über-die-Verhältnisse-Leben, Abwälzen oder Ausblenden von
Risken - alles Anzeichen mangelnder innerer Ordnung ist lange. Auch
der Schrei nach "dem Staat", der uns gefälligst auf Kosten der
nächsten Generation den Lebensstandard retten muss. Die Krise, das
sind wir.
Eine Friedensordnung braucht nicht Proklamationen, sondern friedliche
Menschen. Eine gerechte Wirtschaftsordnung braucht nicht zentrale
Planungskomitees, sondern anständige Menschen. Eine christliche
Weltordnung baut nicht auf Feiertagsruhe und Kreuze im Kindergarten
auf, sondern auf Christen. Wir kommen also immer wieder auf die
ungemütliche Botschaft von Weihnachten zurück: Es kommt auf uns
Menschen an. Erraten: auf Sie und mich.
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