• 26.05.2008, 10:23:23
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Niemand kann zwei Herren dienen - außer Andorra Doppelherrschaft des franz. Präsidenten und des Bischofs von Urgell

Wien (PK) - Beginnend am 7. Jänner 2008, hat die
Parlamentskorrespondenz die Parlamente der 16 Teilnehmerländer der
EURO 08 porträtiert. Wir bringen in der Folge - wieder jeweils am
Montag - die Porträts der Parlamente der anderen europäischen Staaten
von A wie Albanien bis Z wie Zypern. Heute: Andorra.

Die Charta des Volkes

Es begann mit der "Charta des Volkes" im Jahre 806. Alle
andorranischen Männer, so heißt es darin, bräuchten keinem Souverän
Steuern zu zahlen, hätten gemeinsam das Recht auf die unmittelbare
Gerichtsbarkeit und seien im Besitz allen unkultivierten Landes
innerhalb der Täler von Andorra. So schön dieser Text klingt, er hat
einen Haken. Nein, es handelt sich bei der "Charta des Volkes" nicht
um eine mittelalterliche Fälschung, wie es in jenen Zeiten viele gab.
Vielmehr fehlt jeder Hinweis auf ein diesbezügliches Dokument als
solches. Die Bewohner von Andorra waren Jahrhunderte lang klug genug,
sich auf eine Urkunde zu berufen, die aller Wahrscheinlichkeit nach
niemals existierte. Allein die Berufung auf Karl den Großen, der
Andorra diese Charta gegeben haben sollte, genügte, um alle
territorialen Begehrlichkeiten von spanischer oder französischer
Seite abzuschmettern.

Doch mochte es auch möglich sein, der Weltlichkeit auf diese Weise
die Stirn zu bieten, gegen die Kirche kamen auch die Andorraner nicht
an. Die Diözese von Urgell, die Andorra schon seit 839 als unter ihre
Zuständigkeit fallend ansah, setzte sich nach rund 200 Jahren
juristischer und mitunter auch handgreiflicher Auseinandersetzungen
gegen die Andorraner durch, die schließlich den Kirchenfürsten von
Urgell am 31. Dezember 1199 Treue und Gefolgschaft schworen.

Die Kirche freilich ließ sich ihren neuen Besitz postwendend teuer
vergüten. Sie trat gegen entsprechend große Münze den Herren von
Caboet-Castellbo das Recht ab, in ihrem Namen über die Andorraner zu
herrschen, und in Arnold I. (Arnau) hatten die Andorraner 1201 nun
erstmals etwas, was sie bislang noch nie gekannt hatten: einen
Landesherrn. Doch noch ehe Arnold eine Dynastie etablieren konnte,
verschied er ohne männliche Erben, weshalb seine Besitztümer an
seinen Schwiegersohn, Roger II., aus dem Haus der Grafen von Foix
übergingen. Die Grafen von Foix freilich fühlten sich an das
Lehensverhältnis zur Kirche nicht gebunden und strebten nach einem
eigenen, kleinen Fürstentum in den Pyrenäen. Roger III. und Roger IV.
führten einen regelrechten Krieg gegen die Bischöfe von Urgell, ehe
sich zeigte, dass keine der beiden Seiten die andere dauerhaft würde
überwinden können.

Und so kam Andorra 1278 zu jener Regelung, die den Staat auch heute
noch bemerkenswert macht. Die Grafen von Foix und der Bischof von
Urgell einigten sich darauf, Andorra gemeinsam zu regieren, als Ko-
Fürsten sozusagen. Die Rechtsprechung, die Aushebung von Soldaten und
die Festsetzung von Steuern oblag beiden Fürsten, und die Andorraner
mussten nun gleich zwei Souveränen Tribut zollen.

1419 erste parlamentarische Vertretung

Für die nächsten 120 Jahre hatten die Andorraner zwar so manches
Handelsprivileg, in ihrem eigenen Namen sprechen durften sie jedoch
nicht. 1402 erhielten sie das Markt- und Stapelrecht, und so erschien
es einem von ihnen, Andreas von Alas, folgerichtig, am Markttag auch
Probleme administrativer und politischer Natur zu besprechen. Zudem,
so Alas, wäre es sinnvoll, eigene Abgeordnete mit der Aufgabe zu
betrauen, allfällige Verhandlungen mit den Ko-Fürsten zu führen.
Andreas von Alas verfasste eine diesbezügliche Petition, die im
Februar 1419 vom Bischof und im Dezember 1419 vom Grafen von Foix
akzeptiert wurde. Von diesem Zeitpunkt an sollten die sechs Pfarren
(Orte) Andorras, je nach Größe, zwei bis drei Abgeordnete wählen,
welche diese höheren Orts zu vertreten hatten.

Heinrich I. von Foix heiratete in das Haus Navarra ein, was zur Folge
hatte, dass sein Enkel, Heinrich II. von Foix, auch König von Navarra
war. Überdies übernahm er neben diesen Ämtern und der Ko-
Fürstenschaft über Andorra noch als Heinrich IV. den Thron von
Frankreich. Seit "Henri Quatre" ist also stets des französische
Staatsoberhaupt zeitgleich auch einer der beiden andorranischen
Fürsten, was selbst den eingefleischten Sozialisten Francois
Mitterand zum gekrönten Haupt machte.

Dadurch freilich verschob sich das Gleichgewicht zwischen den beiden
Ko-Fürsten, doch verstand es der Bischof von Urgell, sich der
Fürsprache des spanischen Königs zu versichern, sodass sich die Ko-
Fürsten auch weiterhin auf Augenhöhe begegnen konnten. Dies umso
mehr, als sich der französische König zumeist durch einen Legaten
vertreten ließ.

In Turbulenzen geriet das andorranische System 1793, als die
französischen Revolutionäre die Monarchie abschafften und den
andorranischen Abgesandten einfach erklärten, sie seien nun frei und
sollten tun, was ihnen beliebt. Doch noch ehe diese ihre neue
Freiheit so richtig genossen hatten, reklamierte Napoleon die
Souveränität über Andorra wieder für Frankreich.

Das kurze Zwischenspiel der französischen Revolution hatte allerdings
Folgen. Erstmals in der Geschichte Andorras kristallisierten sich
zwei politische Lager heraus. Den Konservativen, die alles so lassen
wollten, wie es war, stellten sich nun die Progressiven entgegen,
welche die andorranische Gesellschaft nachhaltig erneuern wollten.
Aus ihren Reihen ging schließlich Guillem de Areny hervor, dessen
Arbeit für eine grundlegende Reform des andorranischen Parlaments
sorgte. Dieses war in den rund 450 Jahren seines Bestehens zu einer
Art Klub für die wohlhabenden andorranischen Handelsherrn geworden.
Die Mandate blieben mehr oder weniger in den Händen der führenden
Familien, die mehr ihre eigenen Interessen als jene der übrigen
Bürger verfolgten. Gemäß der Reform von de Areny wurde das Wahlrecht
nun auf alle Familienväter ausgedehnt, und die Zahl der Abgeordneten
auf 24 (vier pro Pfarre) festgesetzt. Alle zwei Jahre sollte jeweils
die Hälfte der Mandate erneuert werden.

Mit dieser politischen Erneuerung trug Andorra dem Zug der Zeit
Rechnung, doch spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs
entsprach dieses politische Gefüge nicht mehr dem Willen seiner
Bürger. In einem hart geführten Verfassungsstreit gelang es den
Andorranern schließlich 1933, das allgemeine Männerwahlrecht
durchzusetzen. Dieses wurde während des Zweiten Weltkriegs, als de
facto allein die francistische Seite die Hoheit über Andorra hatte,
aufgehoben, 1947 allerdings wieder in Kraft gesetzt. 1970 erhielten
Frauen das aktive, 1973 auch das passive Wahlrecht.

Die bislang letzte Verfassungsreform wurde 1976 durchgeführt. Waren
bis dahin die Abgeordneten allesamt individuell und unabhängig
aufgetreten, so formierten sich die Mandatare nun offen zu Parteien.
Diese Entwicklung ging wohl nicht zufällig mit den Ereignissen in
Spanien einher, wo nach vier Jahrzehnten Franco die Demokratie
reetabliert wurde. Im Zuge der Verfassungsreform wurde nun auch der
Posten eines Premierministers geschaffen, den bis 1994 die
Konservativen stellten, während seitdem die Liberalen den Ton
angeben.

1982 wurde eine siebente Gemeinde gebildet, sodass die Zahl der
Abgeordneten auf 28 stieg. Da aber zwischen den einzelnen Gemeinden
zum Teil beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der Bewohner
bestehen - während Andorra la Vella knapp 23.000 Einwohner aufweist,
hat etwa die Gemeinde Ordino nur 3.000 Einwohner -, wurde 1997
beschlossen, dass nur noch zwei Mandatare pro Gemeinde gewählt
werden, während die übrigen 14 in einem zweiten Ermittlungsverfahren
landesweit nach dem Proportionalwahlrecht vergeben werden. Fielen die
Wahlen 2001 noch eindeutig zugunsten der Liberalen aus, die 46
Prozent der Stimmen und 16 Mandate erhielten (gegenüber 30 Prozent
und 6 Sitze für die Sozialisten), so verloren die Liberalen 2005 die
absolute Mehrheit, stellen jedoch weiterhin die Regierung. Stimmten
41 Prozent für die Liberale Partei (14 Sitze), so erhielt die SP 38
Prozent der Stimmen und 11 Sitze. Für die Konservativen votierten elf
Prozent (2 Sitze), die linke "Partei der demokratischen Erneuerung"
zog mit 6,2 Prozent ebenfalls ins Parlament ein und stellt einen
Mandatar. Die Grünen mussten sich mit 433 Stimmen bescheiden und
blieben außerparlamentarisch.

Andorras Parlament heute

Die 28 Abgeordneten zum Parlament (Consell General) wählen aus ihrer
Mitte einen Präsidenten und dessen Stellvertreter. Symbol der
Präsidenten- bzw. Vizepräsidentenwürde ist ein Zweispitz, während die
Abgeordneten Dreispitze tragen. Ebenfalls in die Agenden des
Parlaments fällt die Wahl des Ministerpräsidenten, der in den ersten
beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit finden muss, während im
dritten Wahlgang die relative Mehrheit genügt. Der Ministerpräsident
ist sodann berechtigt, die Minister seiner Regierung zu benennen,
wobei deren Zahl vier nicht unter- und sechs nicht übersteigen darf.
Gegenwärtig gibt es in Andorra Minister für Finanzen, öffentliche
Dienste, Bildung & Kultur, Landwirtschaft, Handel und Industrie sowie
Arbeit und Soziales, wobei in letzteres Ressort auch Tourismus und
Sport fallen.

Zu diesen Ressorts gibt es auch parlamentarische Ausschüsse, die
allerdings nicht nach einem Parteienproporz zusammengesetzt sind,
vielmehr bestehen alle Ausschüsse aus jeweils sieben Mitgliedern,
einem pro Ortschaft. Das Plenum des "Consell General" tritt vier Mal
im Jahr zu einer Sitzungsperiode zusammen: in der Osterwoche, Mitte
Juni und sodann im November zum "Andreas-Plenum" sowie im Dezember
zum "Thomas-Plenum". Derzeit sind sechs der 28 Abgeordneten weiblich.

Das "Casa de la Vall"

Heimstätte des Parlaments (www.Consellgeneral.ad) ist das "Haus des
Tales" (Casa de la Vall), welches 1580 ursprünglich für die Familie
Busquet erbaut worden war. Diese verkaufte es 1702 an das
andorranische Parlament, das es seitdem mehreren Zwecken zuführt. In
den Kellern das Gebäudes befand sich das Staatsgefängnis, im
Erdgeschoss sind die Räumlichkeiten der Justiz - mit dem großen
Schwurgerichtssaal - untergebracht. Der erste Stock schließlich weist
das Büro des Parlamentspräsidenten, den Plenarsaal sowie einige
Besprechungszimmer auf, während sich im zweiten Stock eine
altertümliche Küche befindet, in der seinerzeit das Essen für die
Abgeordneten zubereitet wurde. Und da diese, aus den diversen Orten
nach Andorra la Vella kommend, am Abend nach Ende der Sitzung oft
nicht mehr nach Hause zurückkehren konnten, war der Dachboden einst
ein Schlafsaal, der freilich mehr als spartanisch eingerichtet war.
Etwas Stroh, gefüllte Säcke und ein paar Felle mussten den
Volksvertretern für ihre Bedürfnisse genügen.

Ebenfalls im Haus untergebracht sind das staatliche und das
Parlamentsarchiv sowie eine Kapelle, in welcher die Abgeordneten
früher um weise Entschlüsse zu beten pflegten. Vor dem Haus wurde ein
kleiner Garten angelegt, in dem sich auch eine Skulptur in Erinnerung
an die Unabhängigkeit Andorras befindet.

HINWEIS: In dieser Serie sind bisher erschienen: Porträts der
Parlamente der Teilnehmerländer der EURO 08 und eine Darstellung des
Parlamentarismus in Albanien. (Schluss)

Eine Aussendung der Parlamentskorrespondenz
Tel. +43 1 40110/2272, Fax. +43 1 40110/2640
e-Mail: pk@parlament.gv.at, Internet: http://www.parlament.gv.at

OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS - WWW.OTS.AT | NPA

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