"Der Amstettener Kriminalfall scheint gelöst - die wichtigsten Fragen bleiben aber offen"; Ausgabe vom 29. April 2008
Wien (OTS) - Wer kennt solche Situationen nicht aus eigener
Erfahrung: Zwei Minuten nach 22 Uhr steht die Polizei vor der Tür,
weil die lieben Nachbarn wegen "Lärmbelästigung" angerufen haben,
obwohl nur zwei Menschen am Balkon saßen und flüsterten. Oder die Oma
bittet verschämt, beim nächsten Besuch lieber nicht mehr "oben ohne"
hinter der Hecke in der Sonne zu liegen, weil sie sonst bei den
Nachbarn eine "blöde Nachred’" hat.
Kaum jemand, der nicht schon einmal den Eindruck hatte, dass so
mancher Nachbar immer dann wachsam ist, wenn es um die Wahrung
scheinbarer "Ruhe und Ordnung" geht. Umso schockierender und
empörender erscheint es dann, wenn, wie im Amstettener
Missbrauchsfall, die Nachbarn gar nichts gesehen haben - im
Nachhinein aber "eh immer schon was komisch" gefunden haben wollen,
wenn TV-Kameras laufen.
Der Ruf nach einer wachsamen Gesellschaft, die aufeinander
"aufpasst", ist eine heikle Sache. Jeder will, dass Gewalt in der
Familie gestoppt, verhindert, unterbunden wird. Aber niemand will den
Blockwart, der mit Stasi-Methoden ins "Leben der anderen" parasitär
eindringt. Das Amstettener Verbrechen sollte ein Anstoß dafür sein,
dass sich die Zivilgesellschaft fragt, wie viel Zivilcourage sie
haben soll und will. Doch das ist ein Nebenaspekt in der gesamten
Causa - und zeigt auch ein wenig das Unvermögen zu begreifen
angesichts der Monstrosität dieses Kriminalfalles. Die Nachbarn sind
nicht "schuld" am Martyrium der 42-Jährigen und ihrer Kinder. Das
sind andere, und der Rechtsstaat wird sie in die Verantwortung
nehmen.
Die wichtigste Frage, die sich nun stellt, ist eine andere: Wie kann
ein derartiger Fall in Zukunft verhindert werden? Dazu ist es vor
allem notwendig, dass sich die Behörden einer systematischen
Selbstkritik unterziehen: Zweimal ist die damals noch minderjährige
Elisabeth F. von zu Hause ausgerissen, bevor sie endgültig
verschwand. Warum wurde über die Gründe ihres Verschwindens nicht
gründlicher geforscht? Hat man zu vertrauensselig dem Vater geglaubt,
der immer die Erklärung parat hatte, die Tochter sei in eine Sekte
abgetaucht? Hätte die Jugendwohlfahrt engagierter nach dem Verbleib
der leiblichen Mutter forschen können - zumindest jedes Mal, wenn ein
neuer Säugling auf der Türschwelle der Großeltern "abgelegt" worden
war?
Leider gibt es derzeit wenige Indizien, dass die Behörden bereit
sind, sich einer Selbstreflexion zu unterziehen. Das Jugendamt
verhängte eine sofortige Nachrichtensperre, Bezirkshauptmann und
Polizei geben sich bei Fragen nach der Rolle ihrer Behörden eher
wortkarg.
Wenn ein Fehler im System passiert ist, wo und wann ist er passiert -
und wie kann er in Zukunft verhindert werden? Wenn am Ende des
Überprüfungsprozesses steht, dass die Behörden kein Versäumnis
begangen haben, dass nichts verhindert werden hätte können - umso
besser.
Gab es Versäumnisse, ist es hoch an der Zeit, etwas zu verändern:
5000 Anzeigen gibt es pro Jahr wegen des Verdachts auf
Kindesmissbrauch, die Dunkelziffer ist noch viel höher: Laut
Expertenschätzungen sollen zwei von zehn österreichischen Kindern
schon einmal missbraucht worden sein.
Die Gefahr besteht, dass der Amstettener Kriminalfall all diese
Verbrechen überlagert, so wie es der Fall Kampusch lang genug getan
hat. In die (notwendige) Rücksichtnahme auf das Opfer wurde damals
auch recht großzügig die Behörde miteinbezogen. Dadurch wurden
grundsätzliche Fragen nicht gestellt. Möglich, dass dieses Versäumnis
nun uns allen auf den Kopf fällt. Unerträglich, wenn dies noch einmal
passieren sollte.
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