Wien (PK) - Österreich und die Schweiz sind die Gastgeberländer der
Fußballeuropameisterschaft 2008, der EURO 2008. Die
Parlamentskorrespondenz nimmt dieses sportliche Großereignis zum
Anlass, die Parlamente der Teilnehmerländer (und in der Folge anderer
europäischer Länder) vorzustellen. Die Beiträge erscheinen jeweils am
Montag. Heute: die Niederlande.
Während sich zahlreiche europäische Staaten aus monarchischen
Systemen heraus hin zu Republiken entwickelt hatten, gingen die
Niederlande den umgekehrten Weg. Aus der Republik des 17. und 18.
Jahrhunderts wurde eine Königreich - eine konstitutionelle Monarchie
mit einer starken parlamentarischen Komponente. Dabei kommt in der
niederländischen Verfassung das Wort "Demokratie" gar nicht vor. Der
Souverän ist nicht das Volk, sondern der "Fürst" (in der Person der
Königin), Gesetze werden nach "Beratung mit den Generalständen" von
der Königin verkündet, die Regierung wird von der Königin bestellt.
Der hervorragenden demokratischen Reputation des Landes tut dies
allerdings keinerlei Abbruch. Nach dem von der Zeitschrift
"Economist" im Jahr 2006 berechneten Demokratieindex nimmt das
Königreich Niederlande den dritten Platz unter 167 bewerteten Staaten
ein (und liegt damit elf Ränge vor der Republik Österreich).
Ein Aufstand steht am Anfang
Erste Ansätze einer Volksvertretung gab es bereits im
Spätmittelalter, als sich in den Städten der "niederen deutschen
Lande", die formell Teil des Heiligen Römischen Reichs waren,
Vertreter des Adels, des Bürgertums und anfangs auch der
Geistlichkeit zu sogenannten Generalständen (Staten-Generaal)
zusammenschlossen. Wenn wichtige Entscheidungen anstanden oder die
Staatskasse leer war, berief der Landesherr, meist aber dessen
Statthalter, diese Versammlungen zu Beratung und Mitentscheidung ein.
Nachdem nun im 16. Jahrhundert die mittlerweile überwiegend
calvinistischen Niederlande an die Linie der spanischen Habsburger
gefallen waren, gerieten die selbstbewussten Städte bald in
Opposition zu König Philipp II. und dessen streng zentralistischer
Verwaltung, die auch mit der Unterdrückung des protestantischen
Glaubens verbunden war. 1572 erklärten die Vertreter der wichtigsten
Städte der Grafschaft Holland in Dordrecht ihre Unabhängigkeit von
Spanien und wählten Wilhelm von Oranien zum Führer ihres Aufstands.
Diese Dordrechter Ständeversammlung gilt als bahnbrechend auf dem Weg
zur Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, da sie
erstmals auch ein Bekenntnis zu Religions- und Versammlungsfreiheit
enthält. In der Utrechter Union schlossen sich daraufhin 1579 die
sieben nördlichen Provinzen zur Republik der Sieben Vereinigten
Niederlande zusammen, die im Westfälischen Frieden 1648 auch
international anerkannt wurden.
Wohlhabende Bürger lenken die Republik
Regiert wurde die Republik von einem Patriziat aus wohlhabenden
Bürgern, wobei die einzelnen Städte und Distrikte relativ unabhängig
voneinander waren und jeweils eigene Verwaltungen und eigene Gesetze
hatten. Das Amt des Statthalters, das von den Erben Wilhelms von
Oranien ausgeübt wurde, blieb der Republik als feudalistisches
Element aber auch weiterhin erhalten.
Der Aufstieg im 17. Jahrhundert - dem Goldenen Jahrhundert - zu einer
der führenden Seehandels- und Kolonialmächte der Welt bescherte den
Niederlanden nicht nur großen Reichtum, sondern auch eine Reihe von
kriegerischen Auseinandersetzungen mit England, die 1689 ein Ende
fanden, als Statthalter Wilhelm III. vom Parlament in London zum
englischen König ausgerufen wurde.
Die Revolutionen in Nordamerika und in Frankreich hatten auch
Auswirkungen auf die politischen Verhältnisse in den Niederlanden.
Die Republik hatte zwar als erster Staat die USA völkerrechtlich
anerkannt, die Forderungen ihrer eigenen Bürger nach mehr Demokratie
fanden aber kein Gehör, eine "patriotische" Revolte wurde vom Haus
Oranien mit preußischer Unterstützung niedergeschlagen. Letztlich
waren es aber doch französische Revolutionstruppen, die mit ihrem
Einmarsch 1795 das Schicksal der Vereinigten Niederlande besiegelten.
Eine im Geist der Revolution errichtete Batavische Republik mit einer
Nationalversammlung nach französischem Vorbild war nur von kurzer
Dauer, wurde bereits 1806 von Napoleon in das Königreich Holland mit
Louis Bonaparte, einem Bruder des Kaisers der Franzosen, als König
umgewandelt und schließlich 1810 von Frankreich annektiert.
Die Niederlande als parlamentarische Monarchie
Nach dem Sturz Napoleons kehrten die Niederlande 1814 wieder als
unabhängiger Staat auf die europäische Landkarte zurück - und zwar in
Form einer Erbmonarchie des Hauses Oranien, deren Staatsgebiet bis
1830 auch das heutige Belgien umfasste. Die Verfassung war zwar noch
weitgehend vom Stil des ancien régime geprägt, bezeichnete die
Generalstände aber nicht mehr als Gesandtenversammlung wie in der
Republik der Sieben Provinzen, sondern als nationale Volksvertretung.
Bereits in dieser ersten Phase bestand das Parlament aus zwei
Kammern, wobei die Mitglieder der ersten Kammer vom König ernannt,
jene der Zweiten Kammer aber nach einem restriktiven Wahlrecht
gewählt wurden. Mit der großen Verfassungsreform von 1848 wurden dann
wesentliche liberale Elemente wie die Ministerverantwortlichkeit
eingeführt. Das moderne parlamentarische System in seiner heutigen
Form, in dem de facto das Parlament die Regierung ernennt, etablierte
sich im Zuge weiterer Verfassungsreformen in den Jahren 1866/68.
Politisch war die Zeit um die Jahrhundertwende vor allem vom Streit
um ein allgemeines Wahlrecht und der Frage der Finanzierung der
religiösen Schulen bestimmt, wobei die konfessionellen den liberalen
Parteien gegenüberstanden. Als in den Jahren des Ersten Weltkriegs,
in dem die Niederlande neutral blieben, die Parteien näher
zusammenrückten, kam es zum Durchbruch. Unter Federführung des
parteilosen Regierungschefs Pieter Cort van der Linden konnte 1917
ein Kompromiss geschlossen werden, der als Pacificatie
(Friedensschaffung) in die Geschichte der Niederlande einging. Die
Liberalen stimmten der staatlichen Finanzierung der religiösen
Schulen zu, während im Gegenzug die konfessionellen Parteien beim
Wahlrecht nachgaben. Damit war der Weg frei für ein allgemeines,
gleiches Verhältniswahlrecht, das 1919 auch auf die Frauen ausgedehnt
wurde.
Im Zweiten Weltkrieg wurden die Niederlande trotz einer strikten
Neutralitätspolitik von den Deutschen angegriffen und fünf Jahre lang
besetzt. Dem Terror der Nationalsozialisten, die unter der
Bevölkerung kaum Unterstützung fanden, fielen 112.000 niederländische
Juden zum Opfer. Die nach England geflüchtete Königin Wilhelmine
konnte als Symbolfigur des Widerstands gegen die deutschen Besatzer
großen Einfluss ausüben.
Von der "Versäulung" zur offenen Gesellschaft
Das politische System der ersten drei Jahrzehnte der Nachkriegszeit
wurde von der sogenannten Versäulung ("Verzuiling") getragen, einem
typisch niederländischen Partikularismus, der sich bereits in den
1920er Jahren bildete und der darin bestand, dass religiös, sozial
und kulturell definierte Gruppen in einer Art freiwilliger Apartheid
nebeneinander lebten und politisch über entsprechende Parteien im
Parlament zusammenarbeiteten. Diese Versäulung war ein wichtiger
Impuls für die Bildung konfessioneller Parteien der katholischen
sowie der protestantisch-calvinistischen Kräfte. Neben diesen beiden
Lagern gab es noch eine allgemeine, neutrale Säule, der etwa
Sozialisten, Liberale und andere kirchlich Ungebundene angehörten. In
den 1970er Jahren schwächten sich die Bindungen der Niederländer an
ihre religiösen und kulturellen Gruppen zusehends ab, aus der
"versäulten" wurde eine offene Gesellschaft. Nach den Wahlen von 1994
kam erstmals seit 1918 ein Kabinett ohne konfessionelle Partei
zustande, als Ministerpräsident Wim Kok eine "lila Koalition" aus
Sozialdemokraten, Rechts- und Linksliberalen bildete.
Die Politik der Niederlande ist vor allem von einer in anderen
europäischen Staaten ungewohnten Toleranz geprägt, die von der
Drogenpolitik über die Prostitution bis zu jüngeren kontroversiellen
Entscheidungen in Sachen Homosexuellen-Ehe und aktiver Sterbehilfe
reicht und auch die Integrationspolitik umfasste. Dieses
Selbstverständnis wurde in den letzten Jahren durch die Morde an dem
Politiker Pim Fortuyn und dem Filmemacher Theo van Gogh allerdings
erschüttert und wird sich in einer zunehmend multikulturellen
Gesellschaft neu bewähren müssen.
Das niederländische Parlament heute
Die Generalstände (auch Generalstaaten genannt) bilden mit ihren zwei
Kammern das Parlament der Niederlande (www.parlement.nl). Die Erste
Kammer, der Senat, besteht aus 75 Mitgliedern, die von den 12
Provinzparlamenten entsandt werden. Sie hat vor allem die Funktion
der Beratung und Begutachtung und kann über Gesetzesbeschlüsse der
Zweiten Kammer abstimmen, diese aber nicht abändern, wohl aber durch
ein Veto blockieren.
Der eigentliche Ort, an dem Regierung und Parlamentarier miteinander
verhandeln, ist die Zweite Kammer, die sich aus 150 Abgeordneten
zusammensetzt und auf vier Jahre gewählt wird. Das Recht der
Gesetzesinitiative steht neben der Regierung jedem Abgeordneten zu.
Die Zweite Kammer beschließt die Gesetze, die dann gemeinsam von
Regierung und Generalständen erlassen und von der Königin
unterzeichnet werden. Das Parlament übt zwar die Kontrolle über die
Regierung aus, auf ihre Zusammensetzung hat es aber formell keinen
Einfluss. Auch ein Sturz der Regierung durch das Parlament ist nach
dem Wortlaut der Verfassung nicht möglich, was allerdings nichts an
der Tatsache ändert, dass ein Kabinett, das das Vertrauen der Zweiten
Kammer verloren hat, nicht mehr handlungsfähig ist. Es obliegt allein
der Königin, die im Gegensatz zu den skandinavischen Monarchen
relativ große politische Einflussmöglichkeiten hat, die Regierung und
den Ministerpräsidenten einzusetzen. Dazu ernennt sie einen
sogenannten "formateur" - meist bereits der zukünftige
Ministerpräsident - , der in Gesprächen mit den Parlamentsfraktionen
über die Bildung eines Kabinetts verhandelt.
Gewählt wird die Zweite Kammer nach einem reinen Verhältniswahlrecht,
wobei die Wähler ihre Stimme als Präferenzstimme für den Kandidaten
einer Liste abgeben können. Das niederländische Wahlsystem sieht de
facto keine Sperrklausel vor, die Mandatszuteilung erfolgt unter
jenen Parteien, die mindestens ein 150stel der Stimmen erhalten
haben. Dies erklärt auch den Umstand, dass im niederländischen
Parlament wesentlich mehr Parteien vertreten sind als etwa im
österreichischen Nationalrat, was die Bildung von
Regierungskoalitionen mitunter erschwert. So zogen nach den letzten
Wahlen am 22. November 2006 zehn Parteien in die Zweite Kammer ein.
Führende Kräfte sind die Christdemokraten (CDA) von Ministerpräsident
Jan Peter Balkenende, die sozialdemokratische Partei der Arbeit
((PvdA), die Sozialistische Partei (SP), die liberal orientierte
Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) und die
rechtspopulistische Partei für die Freiheit (PVV). Daneben gibt es
aber auch kleinere Fraktionen, namentlich die Grünen, die
linksliberalen Democraten66, die ChristenUnie (CU), die Partei der
evangelisch Reformierten und eine Tierschutzpartei.
Der Haager Binnenhof als politische Schaltstelle
Zentrum des politischen Lebens der Niederlande ist der Binnenhof, ein
mittelalterlicher Gebäudekomplex in der Hauptstadt Den Haag. Hier
befindet sich auch der Rittersaal, in dem jedes Jahr am dritten
Dienstag im September, dem sogenannten Prinsjesdag, die Königin in
ihrer Thronrede vor dem Kabinett und den Abgeordneten der Ersten und
der Zweiten Kammer das Programm der Regierung für das nächste Jahr
präsentiert und damit die ordentliche Tagung des Parlaments eröffnet.
Normalerweise tagen die beiden Kammern aber getrennt voneinander. Der
Senat hat seinen Sitz im Nordwestflügel des Binnenhofs in einem 1652
von Pieter Post erbauten Saal. Tagungsort der Zweiten Kammer war
ursprünglich der ehemalige Ballsaal von 1790 im Südflügel, bevor die
Abgeordneten 1992 in einen von Pi de Bruijn errichteten Neubau in
unmittelbarer Nähe des Binnenhofs umzogen.
HINWEIS: Bisher erschienen: Schweiz (PK Nr. 4/2008),Griechenland (PK
Nr. 18/2008), Deutschland (PK Nr. 34/2008), Kroatien (PK Nr.63),
Polen (PK Nr. 100/2008), Tschechien (PK Nr. 124/2008), Portugal (PK
Nr. 136), Türkei (PK Nr. 146/2008), Frankreich (PK Nr. 173/2008) und
Italien (PK Nr. 215/2008) und Rumänien (PK Nr. 242/2008). Nächste
Woche: Schweden. (Schluss)
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