Wien (PK) - Österreich und die Schweiz sind die Gastgeberländer der
Fußballeuropameisterschaft 2008, der EURO 2008. Die
Parlamentskorrespondenz nimmt dieses sportliche Großereignis zum
Anlass, die Parlamente der Teilnehmerländer (und in der Folge anderer
europäischer Länder) vorzustellen. Die Beiträge erscheinen jeweils am
Montag. Heute: Frankreich.
Die Geschichte des französischen Parlamentarismus hängt eng mit der
Entwicklung der französischen Demokratie zusammen und ist von einem
ständigen Tauziehen zwischen der Exekutive und der Legislative
geprägt. Zwar haben die Franzosen seit der Revolution regelmäßig
Volksvertreter gewählt, das Wahlsystem und die Befugnisse der
Mandatare waren aber je nach der Epoche sehr unterschiedlich
gestaltet. Allein schon die Namensgebung des Parlaments ist in diesem
Zusammenhang aufschlussreich. So hatte man 1789 mit der Bezeichnung
"Assemblée Nationale" (Nationalversammlung) einen Begriff von eminent
politischer, ja revolutionärer Bedeutung gewählt. In der Folgezeit
fand man hingegen Namen wie "Kammer der Volksvertreter",
"Gesetzgebender Körper" oder "Abgeordnetenkammer", die allesamt in
unterschiedlichem Ausmaß die Zurückhaltung, oft sogar die erklärte
Abneigung der Regierenden gegenüber dem Prinzip der Volkssouveränität
widerspiegelten. Auf die geschichtsträchtige Bezeichnung
Nationalversammlung griff man endgültig erst wieder im Jahr 1946
zurück. Die Metrostation vor dem Parlamentsgebäude wurde allerdings
erst im Zuge des Revolutionsjubiläums 1989 von "Chambre des Députés"
auf "Assemblée Nationale" umbenannt...
Die revolutionären Anfänge
Zentrales Datum in der Entwicklung des französischen Parlamentarismus
ist das Revolutionsjahr 1789, als sich bereits einen Monat vor dem
Sturm auf die Bastille die Abgeordneten des Dritten Standes zur
Nationalversammlung erklärten und die Ausarbeitung einer Verfassung
beschlossen, die die Rechte des Königs beschränken sollte.
Ausgangspunkt war dabei das revolutionäre Konzept, wonach die
Souveränität nicht mehr beim Monarchen, sondern bei der Nation lag
und von ihren - nach einem noch stark ausgeprägten Zensussystem -
gewählten Vertretern ausgeübt wurde. Gegen den Willen des Königs
beschloss die Nationalversammlung am 26. August 1789 die von La
Fayette eingebrachte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte mit
ihrem für Europa bahnbrechenden Kernsatz: "Die Menschen werden frei
und gleich an Rechten geboren und bleiben es".
Die Gesetzgebende Versammlung, die auf Basis der Verfassung von 1791
gewählt wurde, hatte ein klares Übergewicht gegenüber dem König, dem
nur ein aufschiebendes Veto zukam. Es waren vor allem die
Auseinandersetzungen über die Stellung des Monarchen, die die
Sitzungen der Versammlung im ersten Jahr prägten. Die gemäßigten
Abgeordneten, die für eine konstitutionelle Monarchie eintraten,
saßen dabei auf den Plätzen rechts vom Vorsitzenden aus gesehen,
während die linke Seite des Saals von den Verfechtern eines rein
republikanischen Systems eingenommen wurde. Nach den innenpolitischen
Unruhen als Folge des Festhaltens Ludwigs XVI. an seinem Vetorecht
und der Absetzung des Königs am 10. August 1792 war das Projekt einer
konstitutionellen Monarchie gescheitert - die Einteilung des
politischen Spektrums in Rechts und Links gilt allerdings heute noch.
Mit der Abschaffung der Monarchie setzte die - kurze - Ära der Ersten
Republik ein, in der sich die neu gewählte Versammlung nun Konvent
(wörtlich: Zusammenkunft, Versammlung) nannte. Eine unter dem
maßgeblichen Einfluss von Maximilien de Robespierre, dessen radikale
Bergpartei gegenüber den gemäßigten Girondisten die Oberhand gewann,
beschlossene republikanische Verfassung vereinigte alle Macht in
einem auf Basis des universellen Wahlrechts gewählten
Einkammerparlament, kam aber vor dem Hindergrund der sich
zuspitzenden politischen Lage - Koalitionskriege, Terreur-Herrschaft
- nicht zur Anwendung.
Kaiserreich und Restauration: Rückschläge für die Volksvertretung
Nach dem Sturz Robespierres konnte im September 1795 eine Verfassung
in Kraft gesetzt werden, die die gesetzgebende Gewalt auf zwei durch
ein Zensuswahlrecht gewählte Kammern - den Rat der Fünfhundert und
den Senat - aufteilte, denen als Exekutivgewalt das fünfköpfige
Direktorium gegenüberstand. Der politischen Instabilität, die dieses
Regime prägte, machte Napoleon Bonaparte mit dem Staatsstreich vom
18. Brumaire des Jahres VIII (9. November 1799) ein Ende. Frankreich
trat damit in eine längere Phase ein, in der die exekutive Gewalt ein
klares Übergewicht gegenüber der legislativen Gewalt ausübte. De
facto vereinigte Napoleon - zunächst als Erster Konsul und ab 1804
als Kaiser - Exekutive und Legislative in seiner Person. Ihm verdankt
Frankreich den Code Civil, ein Ausbau der parlamentarischen
Komponente zählte allerdings nicht zu den Prioritäten des Kaisers.
Das Ende des Ersten Kaiserreichs und die Wiederherstellung der
königlichen Souveränität konnten nicht zu einer Stärkung der
Legislative beitragen. Nach der Juli-Revolution von 1830 kam es zwar
unter dem "Bürgerkönig" Louis-Philippe zu einer Aufwertung der
Volksvertretung, eine echte republikanische Verfassung brachte aber
erst die Revolution von 1848. Die Nationalversammlung - man griff
wieder auf den Terminus von 1789 zurück - ging aus einer allgemeinen
Wahl (der Männer) hervor, hatte allein das Recht der Gesetzgebung und
stand nach dem Prinzip einer strengen Gewaltentrennung einem
ebenfalls vom (männlichen) Volk gewählten Präsidenten gegenüber.
Diese Ära der Zweiten Republik wurde aber bereits 1851 von Louis-
Napoleon Bonaparte beendet, der mit einem Staatsstreich den Weg zum
Zweiten Kaiserreich ebnete und als Napoleon III. im Wesentlichen die
Grundsätze des Ersten Kaiserreichs, die auf eine Schwächung der
Volksvertretung hinausliefen, übernahm.
Dritte Republik schafft Grundlagen für modernen Parlamentarismus
Eine parlamentarische Praxis nach heutigem Verständnis konnte sich
erst nach dem Sturz Napoleons III. mit der Dritten Republik
etablieren. Die Verfassung von 1875 schuf ein Zweikammersystem mit
einer Abgeordnetenkammer, deren Mitglieder in allgemeiner und
direkter Wahl auf vier Jahre gewählt wurden, und einem durch
indirekte Wahl bestimmten Senat. Beide Kammern hatten das Recht der
Gesetzesinitiative und konnten überdies der Regierung das Misstrauen
aussprechen. Die parlamentarischen Debatten waren von großen Rednern
wie Léon Gambetta, Jean Jaurès, Jules Ferry oder Georges Clemenceau
geprägt, Parteien und parlamentarische Fraktionen entstanden erst zu
Beginn des 20. Jahrhunderts. Insgesamt gab es zwischen 1871 und 1940
17 Legislaturperioden, wobei die Regierungen häufig wechselten. In
die Ära der Dritten Republik fallen Beschlüsse von entscheidender
Tragweite wie das Gesetz vom 9.Dezember 1905, das die für Frankreich
so typische "laicité", die Trennung von Staat und Kirche(n), brachte,
sowie die Einführung des bezahlten Urlaubs im Jahr 1936 durch die
Volksfrontregierung unter Léon Blum.
Die Niederlage gegen die deutschen Truppen und der darauf folgende
Waffenstillstand besiegelte im Juli 1940 auch das Schicksal der
Dritten Republik. Abgeordnetenkammer und Senat, die in Vichy als
Nationalversammlung einberufen wurden, übertrugen gegen den
Widerstand von 80 Parlamentariern alle Machtbefugnisse auf Marschall
Pétain, die Vertretung des Volkswillens hatte für die nächsten vier
Jahre kein Organ mehr. Nach der Befreiung setzte im August 1944 die
provisorische Regierung unter General De Gaulle eine beratende
Versammlung ein, bevor nach den Wahlen vom 21. Oktober 1945 eine
verfassunggebende Versammlung die Institutionen der Vierten Republik
ausarbeitete.
Rückkehr der "Nationalversammlung" in der Vierten Republik
Die Verfassung vom 27. Oktober 1946 baute auf dem Grundsatz der
Souveränität des Parlaments und dem Primat der gesetzgebenden Gewalt
gegenüber der Exekutive auf. So verfügte die nach dem
Verhältniswahlrecht gewählte Nationalversammlung - der Begriff aus
der Zeit der Revolution fand nun endgültig Eingang in den politischen
Alltag - über umfassende Befugnisse der Gesetzgebung, sie bestimmte
die Dauer ihrer Sitzungsperioden und konnte die Regierung stürzen. In
der Praxis war die Zeit der Vierten Republik aber von großer
Instabilität geprägt. Das Proportionalwahlrecht konnte keine
homogenen politischen Mehrheiten hervorbringen, Gaullisten und
Kommunisten weigerten sich, an Koalitionen teilzunehmen, sodass sich
die Regierungen immer wieder auf kleinere, heterogene Parteien
stützen mussten, die im Parlament über keine absolute Mehrheit
verfügten. Frankreich war durch seine Instabilität nicht in der Lage,
auf die Krisen im Zusammenhang mit der Entkolonialisierung zu
reagieren, der Algerien-Krieg brachte schließlich 1958 den Sturz der
Vierten Republik und die Rückkehr General De Gaulles auf die
politische Bühne.
Frankreichs Parlament heute
Die unter Federführung De Gaulles ausgearbeitete Verfassung der
Fünften Republik schränkte die Befugnisse des Parlaments zugunsten
des Präsidenten ein, dessen Stellung allein schon aufgrund seiner
direkten Volkswahl gestärkt wurde.
Das französische Parlament beruht auf einem Zweikammersystem
bestehend aus Nationalversammlung und Senat. Die 577 Abgeordneten der
Nationalversammlung werden in direkter Wahl in Einpersonenwahlkreisen
für fünf Jahre gewählt. Das Wahlrecht sieht dabei zwei Wahlgänge vor.
Im ersten Wahlgang gewählt ist, wer mehr als 50 % der Stimmen
erhalten hat. An der zweiten Wahlrunde, die eine Woche später
stattfindet, nehmen die beiden bestplatzierten Kandidaten sowie jene
Kandidaten teil, die mindestens 12,5 % der Stimmen aller
Wahlberechtigten erhalten haben. In der Praxis einigen sich die
Kandidaten eines politischen Lagers zwischen den beiden Wahlgängen
immer darauf, gemeinsam einen Kandidaten zu unterstützen, sodass es
dann zu einer Stichwahl zwischen einem Rechtskandidaten und einem
Linkskandidaten kommt.
Die 331 Senatoren wiederum werden alle zwei Jahre zu einem Drittel
ersetzt und in indirekter Wahl für sechs Jahre gewählt. Für ihre Wahl
wird in jedem Departement ein Wahlgremium eingesetzt, das aus dem
Reihen der Politiker von Gemeinde bis Regionalrat gewählt wird.
Dadurch spiegelt die Nationalversammlung eher die aktuelle politische
Lage im Land wider, während der Senat als Garant für die Kontinuität
angesehen werden kann.
Die Verfassung räumt der Nationalversammlung mehr Gewicht bei der
Gesetzgebung gegenüber dem Senat ein. Grundsätzlich muss ein Gesetz
von beiden Kammern wortgleich beschlossen werden. Kommt es aber zu
keiner Einigung, kann die Nationalversammlung den Senat überstimmen.
Die politischen Kräfteverhältnisse in der Nationalversammlung sind
darüber hinaus auch für die Ernennung der Regierung von
entscheidender Bedeutung. Da die Nationalversammlung die Regierung
durch ein Misstrauensvotum absetzen kann, muss der Präsident einen
Premierminister auswählen, der eine entsprechende parlamentarische
Mehrheit hinter sich hat. Dies kann wiederum dazu führen, dass
Präsident und Premierminister aus verschiedenen politischen Lagern
kommen und die Regierungsgeschäfte in einer "Kohabitation" ausüben
müssen, was bisher bereits dreimal geschehen ist.
Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Präsident durch die
Verfassung der Fünften Republik gegenüber der Legislative auf allen
Ebenen gestärkt wurde. Er kann die Nationalversammlung jederzeit
auflösen - was nach jeder Präsidentschaftswahl auch tatsächlich
geschieht. Die Regierung besitzt ferner auch eine gesetzgebende
Initiative und kann ihren Entscheidungen das Gewicht eines Gesetzes
verleihen, indem sie einen Erlass zu einem konkreten Themenbereich
verkündet und damit auf die Zustimmung des Parlaments verzichtet.
Dazu kommt noch, dass die Tagesordnungen der Parlamentssitzungen
durch die Regierung festgelegt werden.
Die Sitzungen der beiden Kammern finden getrennt statt. Die
Nationalversammlung tagt im Palais Bourbon, Sitz des Senats ist das
Palais du Luxembourg. Nur für besonders wichtige Entscheidungen, etwa
Verfassungsänderungen, ist eine gemeinsame Sitzung vorgesehen. Die
beiden Kammern werden dann als Kongress des Parlaments ins Schloss
von Versailles einberufen.
Die Gebäude: Palais Bourbon und Palais du Luxembourg
Das Palais Bourbon liegt am Quai d'Orsay am linken Seine-Ufer und ist
von der Place de la Concorde aus über den Pont de la Concorde zu
erreichen. Es geht auf Louise-Francoise de Bourbon, eine Tochter
Ludwigs XIV. und der Madame de Montespan zurück, die dort zwischen
1722 und 1728 von den Architekten Giardini und Aubert in starker
Anlehnung an das Grand Trianon von Versailles ein Palais errichten
ließ. Zur Zeit der Revolution befand es sich im Besitz des Prinzen
von Condé und wurde konfisziert und 1798 als Sitz des Rates der
Fünfhundert bestimmt. Mit der Restauration gelangte das Palais wieder
an seine ursprünglichen Besitzer, behielt aber seine Funktion als
Abgeordnetenkammer und wurde schließlich 1827 an den Staat verkauft.
Nach Plänen von Jules de Joly wurde das Palais nun ausgebaut und
erhielt damit seine heutige klassizistische Form. Glanzstück ist die
Bibliothek mit ihrem Bilderzyklus von Eugène Delacroix.
Das Palais du Luxembourg ist mit seinem Park und dem photogenen
Wasserbecken eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten von Paris. Nach
Plänen von Salomon de Brosse wurde es zwischen 1615 und 1634 für
Marie de Medicis, die Witwe von König Henri IV., errichtet und blieb
im Besitz der königlichen Familie, die dort 1750 die erste
öffentliche Gemäldegalerie Frankreichs etablierte. Während der
Revolution wurde das Palais als nationales Eigentum beschlagnahmt und
diente als Waffenmanufaktur und als Staatsgefängnis - Danton wartete
hier auf seine Hinrichtung - , bevor es unter Napoleon zum Sitz des
Verwaltungsrates umgebaut wurde. Der Senat zog 1879 in das
geschichtsträchtige Palais ein. Ein Flügel des Luxembourg blieb
Museum und beherbergte bis 1937 u. a. jene impressionistischen
Gemälde, die heute im Musée d'Orsay zu sehen sind. Die Nähe zur
Malerei manifestiert sich noch im Lesesaal der Senatsbibliothek, der
wie die Bibliothek der Nationalversammlung von Eugène Delacroix
ausgestaltet wurde.
HINWEIS: Bisher erschienen: Schweiz (PK Nr. 4/2008),Griechenland (PK
Nr. 18/2008), Deutschland (PK Nr. 34/2008), Kroatien (PK Nr.63),
Polen (PK Nr. 100/2008), Tschechien (PK Nr. 124/2008), Portugal (PK
Nr. 136) und Türkei (PK Nr. 146/2008). Nächsten Montag: Italien.
(Schluss)
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