Wien (PK) - In unserer Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen
wir heute einen weiteren Beitrag über den langen Weg zur Wahlreform
vor 100 Jahren. In unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik
neben den Beiträgen über den figuralen Schmuck am und im Parlament
historische Reportagen über Reden, die Geschichte machten sowie über
die Wahlreform des Jahres 1907.
1873 waren die Mandatare des österreichischen Abgeordnetenhauses
grosso modo erstmals direkt gewählt worden, und zwar auf der Basis
eines Kurienwahlrechts, das die Mehrheit der Bevölkerung von jedem
Wahlrecht ausschloss. Die sich in jenen Jahren eben erst formierende
Arbeiterbewegung erhob prompt die Forderung nach einem "allgemeinem,
gleichen und direkten Wahlrecht für alle Staatsbürger vom 20.
Lebensjahr an", wie es der Neudörfler Parteitag der Sozialdemokratie
1874 formulierte, was auch die Frauen einbezog. Diese
Wahlberechtigten sollten die Möglichkeit besitzen, "für das
Parlament, die Landtage und die Gemeindevertretungen sowie für alle
Körperschaften, welche die Rechte und Pflichten der Gesamtheit wie
der einzelnen Bürger zu wahren haben", Vertreter zu wählen. "Allen so
gewählten Volksvertretern sind entsprechende Diäten zu gewähren."
In diesem Sinne brachte man im Februar 1874 eine Petition in den
Reichsrat ein, in der das "politische Wahlrecht für die arbeitende
Klasse" gefordert wurde. Überraschenderweise wurde diese Petition
tatsächlich im Haus verlesen und einem Ausschuss zur Behandlung
zugewiesen. Über dessen Beratungen kam es am 17. Dezember 1874 in der
99. Sitzung der VIII. Session des Abgeordnetenhauses zur Debatte.
Johann Ferdinand Schrank (1830-1881), liberaler Mandatar aus Wien und
im Zivilberuf Professor an der Wiener Handelshochschule, ergriff für
die Arbeiter Partei. Nur durch das gleiche, direkte und allgemeine
Wahlrecht könne das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit
hergestellt werden, nur auf diese Weise sei es möglich, die
Interessen aller in gleicher Weise zu berücksichtigen. Er stimme
daher in den Ruf ein: "Gebt uns das Wahlrecht, dies brauchen wir -
sei es mit Selbsthilfe, sei es mit Staatshilfe - um unsere
Produktionsverhältnisse zu verbessern."
Kronawetter: Der Staat muss über den Interessen stehen
Der demokratische Abgeordnete Ferdinand Kronawetter (1833-1913) ging
noch einen Schritt weiter, indem er die soziale Komponente der
Wahlrechtsdebatte in den Fokus nahm. Zwischen Kapitalisten und
Arbeitern bestünde ein unüberbrückbarer, "der menschlichen Natur, dem
menschlichen Wesen und der menschlichen Bestimmung" entsprechender
Interessengegensatz, der sich nicht ändern lasse. "Was aber über den
Interessen steht und stehen soll und muss, das ist der Staat, die
Idee, die der Staat durch seine Gewalt ausführt und durchführt, und
es ist daher jeder Staat zu beklagen, in dem die einseitigen
Interessen einer Partei allein Gewalt und Einfluss auf die
Gesetzgebung haben."
Kronawetter erinnerte die Mitglieder des Hauses an jene
Überzeugungen, für die das Gros der Abgeordneten 1848 selbst noch
gestanden sei. Damals sei die Mehrzahl von ihnen für das gleiche
Wahlrecht eingetreten: "Aber derlei ideale Gedanken wurden nur
ausgesprochen, solange es im Interesse des dritten Standes, des
heutigen dritten Standes gelegen war, sie auszusprechen. Damals, als
dieser Satz ausgesprochen wurde, war der dritte und vierte Stand noch
nicht geschieden."
Selbst der spätere Minister Bach habe sich, so Kronawetter, für das
Wahlrecht der Arbeiter ausgesprochen, denn damals habe man "Leute
gebraucht, die für die Interessen des heutigen dritten Standes auf
den Barrikaden gestanden und geblutet haben". Sobald "aber der Sieg
erfochten war, hat mit demselben Egoismus, mit dem der erste und der
zweite Stand dem dritten gegenübergestanden war, der dritte den
vierten von sich gestoßen."
Sehr viel weiter sei man in jenem Jahre 1848 gewesen, das allgemeine,
gleiche und direkte Wahlrecht habe jeder im Munde geführt, "das
Wahlrecht und die Wählbarkeit weder durch den Census, noch durch das
Religionsbekenntnis, noch durch die Gruppierung nach verschiedenen
Ständen beschränkt". Nunmehr lägen die Dinge freilich anders, und man
höre allerorten, dass der vierte Stand deshalb kein Wahlrecht haben
dürfe, weil "die besitzlose Klasse für den Staat nichts leistet und
insbesondere für dessen Erhaltung nichts zahlt".
Nichts aber sei der Wahrheit ferner als diese Behauptung, hielt
Kronawetter fest. So sei etwa die Wehrpflicht eine allgemeine und
müsse von jedem wehrfähigen Staatsbürger völlig ungeachtet seiner
finanziellen Situation persönlich erfüllt werden. Nicht einmal in der
Antike habe man von Sklaven oder im Mittelalter von den Leibeigenen
verlangt, dass sie, denen kein öffentliches Recht zustand, sich für
das Gemeinwesen schlügen. Nun aber bestünde in Österreich das Gros
der Heere aus den Proletarii, während die besitzenden Klassen kaum
Mitglieder genug hätten, um die Offizierstellen zu besetzen: "Ist die
Erfüllung einer so ausgedehnten Wehrpflicht, der jedermann genügen
muss, nichts dem Staat Geleistetes? Und hat der, der sie leisten
muss, kein Interesse für das Wohl und das Gedeihen des Staates, für
den er sein und seiner Kinder Blut hergeben muss?"
Kronawetter ging allerdings noch einen Schritt weiter. Nicht weniger
als 200 Millionen Gulden - gegenüber 80 Millionen Gulden direkter
Steuern - machten die indirekten Steuern aus, "und diese werden zum
größten Teile von der nichtbesitzenden Klasse gezahlt, der man immer
vorwirft, sie zahle nichts und habe kein Interesse am Gedeihen des
Staates." Und nicht einmal für die direkten Steuern könnten sich die
Besitzenden verantwortlich fühlen, denn auch diese zahlten de facto
jene, die sie erarbeiteten und mit ihrer Arbeit verdienten: "Der hat
die Steuer gezahlt, er hat auch das Recht, dass er wähle, denn in
Wahrheit und in Wirklichkeit zahlt er die Steuer und nicht der,
dessen Kassen nur der große Sammelkasten sind, in dem das Resultat
der Arbeit anderer zusammenfließt."
Kübeck: Arbeit und Kapital bedingen einander
Max Kübeck (1835-1913) wies in seiner Replik darauf hin, dass es
allerorten geboten ist, gewisse Regeln aufzustellen, ohne die
gedeihliche Resultate nun einmal nicht zu erwarten seien. Dies gelte
auch für das Staatswesen und für parlamentarische Vertretungen. Um
das Wahlrecht übertragen zu bekommen, brauche es eine gewisse Reife,
gewisse Befähigungen und eben die Erfüllung der Bedingungen, an die
ein solches Recht naturgemäß geknüpft sein muss. Wenn ein Arbeiter
all dies erfülle, so werde er am Wahlrechte auch nicht gehindert
werden, zeigte sich Kübeck überzeugt.
Im übrigen müsse er in Erinnerung rufen, dass zwar das Kapital ohne
Arbeiter nicht gedacht werden könne, dass aber auch die Arbeiter
nicht ihrer Beschäftigung nachgehen könnte, gebe es das Kapital
nicht, welches den Arbeitern erst die Möglichkeit gebe, Arbeit zu
finden und auszuüben. Beide bedingten einander also, sodass "die
Feindseligkeit der arbeitenden Klasse gegen die Kapitalbesitzer
eigentlich vollständig naturwidrig ist und nur dem leider der
menschlichen Natur eingegeben Gefühl der Missgunst und des Neides
entspringt".
Wenn also die soziale Komponente in die Diskussion eingebracht worden
sei, dann möge man sich erst einmal der Arbeitsbedingungen annehmen,
ehe man den nächsten Schritt setzt. Man müsse die Grundlagen
schaffen, dass die Arbeitszeit so gestaltet werde, dass die
Arbeitenden genug Zeit für Gesundheitspflege und Fortbildung besäßen,
was auch durch eigene Inspektoren entsprechend überprüft werden möge.
Generell sei das Thema wert, mit großer Aufmerksamkeit betrachtet zu
werden. Man dürfe nicht erwarten, dass die damit verbundenen Fragen
schnell gelöst werden könnten, vielmehr solle man ihm mit dem Mut und
der Klarheit gegenübertreten, der es "in den Augen der Gebildeten
würdig ist".
Walterskirchen: Zuviel Demokratie macht unberechenbar
Nachdem sich der konservative Fabrikant Rudolf Auspitz (1837-1906) in
ähnlichem Sinne zu Wort gemeldet hatte, ergriff Robert Walterskirchen
(1839-1908) das Wort. Er warnte vor einem Zuviel an Demokratie, die
dazu führen könnte, dass man vor einem "unberechenbaren Etwas"
stünde. Zudem müsse man auf die jeweiligen Minoritäten Bedacht
nehmen, denn ein Wahlrecht ohne Vertretung der Minoritäten wäre
zweifelsfrei eine Ungerechtigkeit.
Dennoch wäre es seines Erachtens nach nicht unmöglich, den Arbeiter
an der politischen Vertretung partizipieren zu lassen, doch müssten
diese zuvor in die Lage versetzt werden, die Notwendigkeit der
Interessenharmonie zu erkennen, damit sie wirklich für das
Staatsganze einträten und nicht für ihre Partikularinteressen. Eine
solche Arbeiterschaft würde erkennen, dass sie ihre Forderungen nicht
mehr über ein gewisses Maß hinaus ausdehnen könne, ohne der
Gemeinschaft und damit eben auch sich selbst zu schaden. Man müsse
also die Arbeiter stufenweise zur politischen Reife hinführen, um,
wenn sie sich dergestalt bewährt haben, ihnen auch die entsprechenden
Rechte einräumen zu können, die sie jetzt schon begehren.
Ganahl: Vorarlberger Arbeiter fühlen sich als "Bürger"
Der Fabrikant Rudolf Ganahl (1833-1910) aus Feldkirch vertrat die
Auffassung, die Vorarlberger Arbeiter sähen sich gar nicht als eigene
Klasse, sie fühlten sich als Bürger. Dies liege auch daran, dass sie
"sesshaft und nicht fahrend" seien, ihren eigenen Hausstand hätten
und sogar das eine oder andere Grundstück, welches sie neben der
Arbeit versorgten. Insofern wäre es in der Tat logisch, ihnen auch
das Wahlrecht zuzuerkennen, eben weil die Lage in Vorarlberg sich von
jener an anderen Orten unterscheide. Und daher sei die Forderung der
Vorarlberger Arbeiter, ihnen das Wahlrecht zu geben, eine
berechtigte, schloss Ganahl.
Josef Fanderlik (1839-1895), Rechtsanwalt aus Olmütz, griff die
Wahldebatte noch einmal auf und meinte, wenn man schon den Arbeitern
das Wahlrecht einräume, dann müsse man selbiges auf jeden Fall der
Landbevölkerung geben, denn diese sei nicht minder zurückgesetzt,
wiewohl sie doch die größte Majorität des Volkes seien, weshalb sie
umgehend "in den Kreis der politisch Berechtigten hineingezogen"
werden sollten.
Plener: Allgemeines Stimmrecht nicht vertretbar
Damit war die Debatte geschlossen, und Berichterstatter Ignaz von
Plener (1810-1908) hielt das Schlusswort. Er nutzte die Gelegenheit
zu einer politischen Stellungnahme. Das Wahlrecht sei keineswegs ein
unveräußerliches Recht, das unter jeder Bedingung verlangt werden
könne, vielmehr sei es "eine politische Funktion, welcher der Staat
jenen verleihen kann, welche die Bürgschaft der Fähigkeit zur
richtigen Ausführung desselben bieten".
Ein allgemeines Stimmrecht sei, so erklärte Plener, auch vom
Standpunkt der Verfassung her nicht vertretbar. Würde man nun
übereilt weitere Schritte setzen, so würde diese die Entwicklung der
"freiheitlichen Institutionen und die Heranbildung einer zur
Selbstverwaltung fähigen Bevölkerung verhindern".
Nachdem also auch der Berichterstatter seine Bedenken geäußert hatte,
schritt das Haus zur Abstimmung und beschloss mehrheitlich, die
Thematik an die Regierung abzutreten. Die sollte sich, wie es in der
Entschließung des Abgeordnetenhauses hieß, mit der Frage eingehend
befassen, um dem Hause zu gegebener Zeit entsprechende Vorschläge zu
unterbreiten, wie mit dem Themenkomplex weiter zu verfahren sei. Die
der Debatte zugrundeliegende Petition galt damit als erledigt.
In jener Gesetzgebungsperiode startete der Abgeordnete Kronawetter im
Februar 1879 einen weiteren Versuch hinsichtlich des allgemeinen
Wahlrechts, indem er eine Petition aus Reichenberg einbrachte, doch
wurde diese nicht mehr behandelt, da die GP wenig später auslief.
Hinweis: Über den Weg zum neuen Wahlrecht siehe die PK-Ausgaben mit
den Nummern 31, 41, 162, 164, 166, 293, 420, 427, 458, 462, 466 und
472. Die Serie wird fortgesetzt.
(Schluss)
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