Wien (PK) - In unserer Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen
wir heute einen Beitrag über Otto Glöckel, den großen Schulreformer,
sowie über Karl und Charlotte Bühler, deren psychologische
Forschungen weit über die Schulreform hinaus wirksam wurden. Zwei
Gedenktafeln am Palais Epstein erinnern an ihr Wirken. In
unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik neben den Beiträgen
über den figuralen Schmuck am Parlament historische Reportagen über
Reden, die Geschichte machten sowie über den Weg zum Wahlreform des
Jahres 1907.
"Eine neue Schulorganisation ist entstanden, das innere Wesen der
Schule hat sich von Grund auf geändert. Das ist das Werk der
Sozialdemokraten, die in Wien 1919 zur Herrschaft gelangten. In der
Sorge um die Jugend, in der Erkenntnis, dass die Demokratie sich erst
dann voll entfalten kann, wenn das Volk eine möglichst demokratische
Ausbildung genossen hat, ging die Gemeinde planmäßig und wohlüberlegt
vor. Solange die Sozialdemokraten in der Bundesregierung saßen, waren
von dort Anregungen zum Schulumbau ausgegangen." Mit diesen Worten
charakterisierte ein Mann die Modernisierung des Schulwesens, der
diese selbst an vorderster Front initiiert und durchgesetzt hatte.
Otto Glöckel zählte in der Ersten Republik zu den politischen
Schwergewichten seiner Partei und wird zu Recht auch heute noch als
einer der wichtigsten Impulsgeber für eine vorbildliche
Bildungslandschaft angesehen.
Erste Prägung
Otto Glöckel wurde am 8. Februar 1874 im niederösterreichischen
Pottendorf geboren. Schon in seiner Jugend machte er die Erfahrung,
dass Bildung ein Privileg der Besitzenden war. Die Kinder armer Leute
konnten nur dann einen entsprechenden Bildungsweg einschlagen, wenn
sie die Fürsprache des jeweiligen Pfarrers besaßen, was allerdings
kaum der Fall war, wenn die Eltern des Kindes eine politische
Ausrichtung hatten, die der Kirche nicht genehm war. Glöckel hatte
mehr Glück als viele seiner Zeitgenossen, seine Eltern, selbst
Lehrer, ermöglichten ihm den Besuch der Lehrerbildungsanstalt, sodass
Glöckel 1892 den Lehrberuf auszuüben begann.
Er arbeitete als Hilfslehrer auf der proletarischen Schmelz, wo er
seine bisherigen Erfahrungen eindrucksvoll bestätigt sah. Die
Arbeiterkinder, die gezwungen waren, ihren Familien beim Broterwerb
zu helfen, waren oft so übermüdet, dass sie im Unterricht einfach
einschliefen. Glöckel war nicht bereit, diese Ungerechtigkeiten
hinzunehmen und trat 1894 der Sozialdemokratischen Partei bei, um
sich sogleich dem Sozialdemokratischen Lehrerverein anzuschließen,
der sich um Karl Seitz und Paul Speiser gebildet hatte.
Dieser gab eine eigene Zeitung, die "Freie Lehrerstimme", heraus und
forderte eine grundlegende Umgestaltung des Schulwesens. Damit
freilich zogen sich die linken Lehrer den Unmut des katholisch
dominierten Unterrichtswesens zu, und es konnte nicht verwundern,
dass Glöckel 1897 gemeinsam mit anderen Aktivisten des Vereins aus
dem Schuldienst entlassen wurde. Allein die Unterstützung der Partei,
die ihm eine Arbeitsstelle in ihren Reihen zuwies, sicherte Glöckel
fortan den Unterhalt.
1897 hielt aber auch ein schönes Erlebnis für Glöckel bereit, er
lernte seine Ehefrau Leopoldine kennen, die im 12. Wiener
Gemeindebezirk als Handarbeitslehrerin wirkte. Leopoldine Glöckel
(1871-1937) sollte ihren Mann in der Folge bei seinem reformerischen
Wirken tatkräftig unterstützen und als Mitglied des Wiener
Gemeinderates (1919-1934) und Landtages (1922-1934) selbst
maßgebliche politische Akzente setzen.
Im Parlament
Die nächsten zehn Jahre war Glöckel unermüdlich für die Ziele der
Partei tätig, und so konnte es nicht verwundern, dass die
Sozialdemokraten ihren führenden Theoretiker auf dem Gebiet des
Bildungswesens 1907 in den Reichsrat entsandten. Glöckel kandidierte
im Wahlkreis Joachimsthal im böhmischen Riesengebirge und setzte sich
mit einem Vorsprung von rund 600 Stimmen gegen seinen deutsch-
radikalen Widersacher durch. 1911 wurde er mit einem Vorsprung von
rund 100 Stimmen wiedergewählt.
Für jemanden, der im Streben nach Wissen die höchste Tugend sah,
musste der Ausbruch des Weltkrieges 1914 eine furchtbare Katastrophe
sein, und im Gegensatz zu so manchem Parteikollegen engagierte sich
Glöckel von Anfang an für die Beendigung des sinnlosen Völkermordens,
was ihm im Mai 1915 - wiewohl als Abgeordneter eigentlich immun -
eine Anklage vor dem Militärgericht einbrachte. Doch zu diesem
Zeitpunkt war der "Hurra-Patriotismus" der ersten Stunde schon
verflogen, die Militärs wagten es nicht, einen populären Mandatar auf
diese Weise mundtot zu machen. Glöckel blieb auf freiem Fuß und
widmete sich wieder seiner theoretischen Arbeit, die 1917 in dem Buch
"Das Tor zur Zukunft" ihren bemerkenswerten Ausdruck fand. In diesem
Werk legte Glöckel noch zu Zeiten der Monarchie den Grundstein für
seine spätere Tätigkeit im Rahmen der Wiener Schulreform.
Mit dem Untergang Habsburgs musste sich Österreich politisch neu
organisieren. Im Oktober 1918 konstituierte sich aus den Reihen der
ehemaligen Reichsratsabgeordneten eine provisorische
Nationalversammlung, der auch Glöckel angehörte. Kurze Zeit später,
im November 1918, trat er als Unterstaatssekretär im Innenministerium
in die Regierung ein.
Dort freilich fühlte er sich nicht wirklich wohl, und so war er
erleichtert, als die Sozialdemokraten die ersten Wahlen in der neuen
Republik gewannen. Sie stellten weiterhin den Regierungschef, und
Otto Glöckel übernahm im März 1919 das Unterrichtsressort.
Der Weg zur neuen Schule
Endlich fand er die Gelegenheit, seine inhaltlichen Überlegungen, die
er später noch in weiteren Publikationen - "Die österreichische
Schulreform" (1923), "Drillschule, Lernschule, Arbeitsschule" (1928),
"Die Entwicklung des Wiener Schulwesens seit 1919" (1929) - konkret
ausformulieren sollte, in die Praxis umzusetzen. Vom ersten Moment an
erwies sich Glöckel in seinem neuen Amt als ein Verfechter der
Gesamtschule und Gegner von Bildungsprivilegien sowie als Kämpfer
gegen die kirchliche Vormachtstellung in den öffentlichen Schulen.
Sein Ziel war unter anderem die Demokratisierung der Schule
(organisatorische und inhaltliche Mitbestimmung der Lehrer, Eltern
und Schüler) und eine Abkehr von der reinen Lernschule (Drillschule).
Bereits seine ersten Schritte hatten Signalwirkung: In seinem Erlass
vom 22. April 1919 sichert er Frauen den freien Zugang zu den
Universitäten. Besondere Bedeutung hatte auch der sogenannte Glöckel-
Erlass, in dem die verpflichtende Beteiligung der SchülerInnen am
Religionsunterricht sowie das tägliche Schulgebet abgeschafft wurden.
Doch viel Zeit war Glöckel als Ressortverantwortlichem nicht gegönnt.
Bereits im Sommer 1920 zerbrach die große Koalition, und bei den
Wahlen zum neuen Nationalrat - Glöckel kandidierte wie 1919 für den
Wahlkreis Währing/Döbling - fiel die Sozialdemokratie auf Rang zwei
zurück. Es bildete sich eine Bürgerblockregierung, und im Oktober
1920 schied Glöckel daher aus der Regierung aus. Wiewohl er bis 1934
Abgeordneter bleiben sollte, verlegte Glöckel den Schwerpunkt seines
Wirkens nunmehr auf die Ebene der Wiener Kommunalpolitik, wo unter
Bürgermeister Jakob Reumann ein überaus bemerkenswertes
Reformprogramm umgesetzt wurde. Bis 1934 wirkte Glöckel als
geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats an diesem
großen Aufbauwerk führend mit. Im Zentrum seines Tuns stand dabei die
"Wiener Schulreform".
Die große Schulreform
Die Wiener Schulreform gilt als eines der wichtigsten Reformprojekte
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Hilfe von Schule und
Erziehung sollte ein neuer Mensch geschaffen werden, der die Zwänge
des 19. Jahrhunderts hinter sich lassen würde.
Die Sozial- und Bildungspolitik im "Roten Wien" der Ersten Republik
Österreichs befand sich in einer Aufbruchstimmung: Neben der
Schulreform wurde das Volksbildungswesen ausgebaut, Kindergärten und
Horte geschaffen und erstmals Erziehungsberatungsstellen
eingerichtet. Dabei stellte sich die Frage nach einer praxisnahen
Psychologie und Pädagogik und einer Neuorientierung der Psychologie
der Schülerpersönlichkeit. Die althergebrachten Ausbildungsmodelle
konnten da nicht mehr genügen, in die pädagogische Theorie und Praxis
flossen deshalb immer mehr die Erkenntnisse der Psychologie ein.
Neben Beiträgen der Wiener Schule der Psychologie unter Karl und
Charlotte Bühler war die Wiener Schulreform hauptsächlich das Werk
der Individualpsychologie Alfred Adlers. Die Individualpsychologie
mit ihrem zentralen Begriff Gemeinschaftsgefühl entsprach dem Bedarf
der sozialdemokratischen Schulreformer an praktisch anwendbarem
pädagogischem und psychologischem Wissen im Erziehungsbereich und
unterstützte deren reformpädagogische Konzepte.
Das wichtigste Ziel der Wiener Schulreform war dabei die Schaffung
eines der neuen demokratischen Republik angemessenen Schulsystems mit
demokratischem Erziehungsstil, Gemeinschaftsgesinnung und gleichen
Bildungschancen für alle Kinder, unabhängig von Geschlecht und
Herkunft.
Im Zuge der Reform wurden die Schulverwaltungen demokratisiert, der
Lehrbetrieb modernisiert, die Lehrpläne überarbeitet, die
Lehrerausbildung erneuert und Ansätze einer Schülerselbstverwaltung
verwirklicht. Der Volksschulunterricht umfasste die drei Prinzipien:
Arbeitsunterricht (Arbeitsschule), Gesamtunterricht und
Bodenständigkeit. Die innere Schulreform baute auf der
psychologischen Forschung über die Kinderseele auf, nicht zuletzt auf
den Arbeiten von Charlotte Bühler. Der Religionsunterricht wurde
fakultativ. Die Herausgabe einer Reihe neuer Bücher begründete den
Ruf der "Wiener Schulbuchkultur". Viele der leitenden ErzieherInnen,
Schuladministratoren, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen und
SozialwissenschaftlerInnen wandten dabei die Individualpsychologie in
Theorie und Praxis an.
Im Mittelschulbereich war Carl Furtmüller, ein Freund Adlers, tätig,
der auch enger Mitarbeiter in Glöckels Reformabteilung war. Die
Individualpsychologie eignete sich in der Pädagogik besonders für die
Beurteilung der Schülerpersönlichkeit und das Erkennen und
Korrigieren von Fehlhaltungen. Anstatt Verbot und Strafe förderte sie
das Verständnis für die Fehlhaltungen der SchülerInnen und die
dahinter verborgenen Lebensleitlinien, um eine adäquate Hilfestellung
durch die LehrerInnen überhaupt zu ermöglichen. Am neu geschaffenen
Pädagogischen Institut der Stadt Wien hielt Adler von 1923 bis 1926
wöchentliche Vorlesungen zum Thema "Schwererziehbare Kinder". Bei den
"Bezirksschullehrerkonferenzen" von 1921 bis 1932 wurden regelmäßig
individualpsychologische Themen wie "Die Schulklasse - eine Arbeits-
und Lebensgemeinschaft" behandelt. Im Rahmen des Versuchsschulwesens
zur Erprobung neuer Lehrmethoden wurde 1931 von der Stadt Wien eine
individualpsychologische Hauptschule eröffnet. Eine ihrer Neuerungen
war die Einführung der "Klassenbesprechungen".
Die neuen Schulpsychologen- und Erziehungsberatungsstellen wurden von
individualpsychologisch ausgebildeten Ärzten und Pädagogen gemeinsam
betrieben. Dieses Modell erregte weit über die Stadtgrenzen Wiens
hinaus Aufsehen und fand bald Nachahmung in Deutschland und in der
Schweiz. Selbst in Skandinavien wurden einzelne Aspekte der
Glöckelschen Schulreform aufgegriffen. Ironischerweise sollten
Austrofaschismus und Nationalsozialismus dazu führen, dass die
Kernpunkte der Wiener Schulreform ihren Weg bis nach Großbritannien
und in die USA fanden, propagierten doch jene Protagonisten der
Reform, die dem Faschismus entkommen waren, ihre Lehre auch in ihren
jeweiligen Gastländern.
Ende und Wirkung
Angesichts dieser grundlegenden Umwälzung war Glöckel den
Reaktionären ein besonderer Dorn im Auge, und so kann es nicht
verwundern, dass sie im Zuge der Ereignisse des Februar 1934 Otto
Glöckel aus seinem Büro im Palais Epstein heraus verhafteten und
umgehend ins Anhaltelager Wöllersdorf verbrachten, wo er ungeachtet
seines angegriffenen Gesundheitszustandes monatelang festgehalten
wurde. Erst der internationale Protest sorgte dafür, dass die
Regierung ihn kurz vor Weihnachten 1934 freiließ.
Gleichwohl hat Glöckel die schwere Haft nicht lange überlebt.
Gezeichnet von der mannigfachen Pein erlag er im Juli 1935, gerade
einmal 61 Jahre alt, seinen Leiden. Seinem Begräbnis auf dem
Meidlinger Friedhof folgten tausende Trauergäste, die damit gegen die
Diktatur demonstrierten, aber auch unterstrichen, was ihnen das große
Werk des Reformators bedeutet hatte. Nach dem zweiten Weltkrieg griff
die Gemeinde Wien auf Glöckels Arbeiten umgehend wieder zurück, und
in der Ära Kreisky wurden viele seiner innovativen Ansätze endlich
auf Bundesebene umgesetzt. Glöckel ist damit auch heute noch
hochaktuell, nicht zuletzt mit seiner grundlegenden Forderung nach
Einführung einer einheitlichen Schule aller Sechs- bis
Vierzehnjährigen.
Karl und Charlotte Bühler im "Mekka der Psychologie"
Das Palais Epstein war aber nicht nur Ausgangspunkt der Glöckelschen
Schulreform, woran seit den 50er Jahren eine Gedenktafel erinnert.
Hier arbeiteten von 1922/23 bis 1934 auch Karl und Charlotte Bühler;
seit 1995 weist eine Gedenktafel darauf hin. Im engen Zusammenhang
mit der Schulreform wurde hier ihr psychologisches Institut
aufgebaut. Charlotte Bühler gilt als eine der wichtigsten
Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, ihre Bedeutung liegt auf dem
Gebiet der Kinder- und Jugendpsychologie. Karl Bühler wird zwar
vielfach als ihr in ihrem Schatten stehender Mann gesehen, hat aber
auf dem Gebiet der Sprachtheorie Hervorragendes geleistet.
Am 27. Mai 1879 in Meckesheim (nahe Heidelberg) geboren, studierte
Karl Bühler zunächst Medizin und war ab 1903 - nach Ablegung der
Doktorprüfung - als Arzt und Assistent tätig. Zudem absolvierte er
ein Psychologiestudium, das er 1906 ebenfalls mit der Promotion
abschloss. Ab 1913 war Karl Bühler außerordentlicher Professor in
München. In dieser Zeit lernte er Charlotte Malachowski kennen, die
1915 im Zuge ihrer Dissertation über Denkprozesse nach München
gekommen war und die Vorlesungen von Edmund Husserl, aber auch von
Karl Bühlers Chef Oswald Külpe besuchte und nach Bühlers
Veröffentlichungen diesen auch persönlich kennenlernte. 1916
heirateten die 22jähige Studentin und der 37jährige Professor, und ab
dieser Zeit verliefen Leben und Denken der beiden parallel. In ihrer
Wohnung in Schwabing stellten sie selbst die Schreibtische
nebeneinander.
Charlotte Bühler wurde am 20. Dezember 1893 in Berlin als älteres von
zwei Kindern einer jüdischen Intellektuellen- und Architektenfamilie
geboren. Dieser Hintergrund machte es auch möglich, dass die junge
Charlotte Malachowski das Gymnasium und die Universität besuchen
konnte. Nach ihrer Promotion - summa cum laude - zum Doktor
("Doktorin" gab es damals nicht!) der Philosophie in München im Jahr
1918 wandte sich Charlotte Bühler der Psychologie zu, um sich nur
zwei Jahre später zu habilitieren.
Seit 1918 in Dresden, Karl Bühler als Psychologie-Professor an der
Technischen Hochschule, Charlotte Bühler als Privatdozentin ebendort,
kam das Paar 1922 nach Wien, damals eine Art Konzentrationspunkt des
Weltgeistes und nicht zuletzt der Psychologie; zu letzterer sollten
Charlotte und Karl Bühler wichtige Beiträge leisten. Sigmund Freud
hatte hier die Psychoanalyse entwickelt, viele seiner bahnbrechenden
Werke waren bereits Klassiker (z.B. Traumdeutung - 1900; Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie - 1905; Totem und Tabu - 1913;
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse - 1917), weitere
sollten folgen (Das Ich und das Es - 1923; Das Unbehagen in der
Kultur - 1930). 1920 war Alfred Adlers Praxis und Theorie der
Individualpsychologie erschienen. Robert Musil arbeitete am "Mann
ohne Eigenschaften", dessen erste beide Teile Anfang der 30er Jahre
erscheinen sollten. Charlotte Bühler hatte sich bereits in Dresden,
1921, mit der Veröffentlichung ihres Werks "Das Seelenleben des
Jugendlichen" einen Namen gemacht und für Wien empfohlen. Bis zum
Einmarsch der Nationalsozialisten arbeitete das Ehepaar in Wien - und
das Jahr 1938 war eine brutale und furchtbare Zäsur, nach der nicht
allein die österreichische und Wiener Welt eine andere war.
Karl Bühler war in Wien Professor für Psychologie und Leiter des
Psychologischen Instituts - zu jener Zeit eine der modernsten
Einrichtungen dieser Art in der ganzen Welt. Der Stadt Wien war daran
gelegen, dass ihre Schulreform auf der Basis der neuesten
wissenschaftlichen Erkenntnisse erfolgen sollte, und die beiden
Gelehrten widmeten sich ihrer Aufgabe mit aller Kraft, unterbrochen
nur von Forschungsaufenthalten in den USA. Charlotte Bühler trieb
ihre jugendpsychologischen Forschungen voran und wertete Tagebücher
von Jugendlichen aus, entwickelte - zusammen mit Hildegard Hetzer und
Lotte Schenk - Kleinkindertests, die bis heute verwendet werden.
Charlotte Bühler war beruflich gerade in London, als Österreich an
Nazi-Deutschland angeschlossen wurde. Karl Bühler wurde am 23. März
von der GESTAPO verhaftet und im April von der Universität entfernt;
man warf ihm Philosemitismus und Unterstützung des Schuschnigg-
Regimes vor. Es gelang seiner Frau, ihn freizubekommen, und die
Familie - das Paar hatte einen Sohn und eine Tochter - fand sich in
Oslo im Exil wieder. Karl Bühler folgte einem Ruf in die USA, während
Charlotte zunächst in Norwegen blieb und lehrte. Kurz bevor die Nazis
Norwegen besetzten, folgte Charlotte Bühler ihrem Mann in die USA, wo
sie eine Professur in Minnesota annahm.
Beide fühlten sich in den USA aber nicht wohl; Charlotte Bühler soll
lange Zeit nur unter Tränen von Wien gesprochen haben. Karl Bühler
vollendete in Amerika sein wissenschaftliches Werk, das in seiner
Ernstnahme der Rolle biologischer Prozesse für die Funktionsweise des
menschlichen Gehirns seiner Zeit ebenso voraus war wie in der
Erkenntnis der Kreativität des menschlichen Denkens. Charlotte Bühler
wurde, zusammen mit Carl Rogers und Abraham Maslow, Mitbegründerin
der humanistischen Psychologie.
Karl Bühler starb am 24. Oktober 1963 in Los Angeles. Charlotte
Bühler kehrte 1971 nach Europa - zu ihrem Sohn Rolf Dietrich Bühler
nach Stuttgart - zurück, wo sie am 3. Februar 1974 starb.
(Schluss)
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